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Kulturindustrie – Die Hölle auf Erden (Ultrablack of Music 9)

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In
der Abwandlung eines Baudrillard-Zitats, das auf den unendlich
wählenden Wähler
gemünzt ist, könnte man schreiben: Die
Kulturindustrie
berieselt und
enerviert zugleich
das
erregte und zugleich
erschöpfte
Nervensystem, lässt die Leute hören, bis sie
selbst immer
öfter hören wollen, und sie würden am liebsten noch viel mehr
hören. Was nicht bedeutet, dass sie einen Geschmack hätten oder an
die Bedeutung der Musik glauben würden – ganz im Gegenteil kommt
darin das Verlangen
nach einer
Hör-Verfressenheit zum Ausdruck: Das Musiksystem wird in gefräßiger
und exkrementeller Weise verschlungen und verdaut. Man entledigt sich
seiner
durch einen Exzess (nicht durch Ablehnung, sondern durch eine
Verdauungsstörung) – das ganze System wird in einen riesigen
weißen Musik-Wanst
umgewandelt.

Dies
heißt auch, dass der Retromodus
in der Musik endgültig
ubiquitär geworden ist. Zwar hat es im Pop, angelehnt an die Mode,
von Anfang an
Retrotendenzen
gegeben,
aber
eine Zeit lang, laut Fisher bis in die 1990er Jahre hinein, sei
es möglich gewesen, »Retro«
von
sog.
zeitgenössischer
Musik, die
die
Stimmungen
einer Periode einfängt,
abzugrenzen.
Heute würden
alle
Retrostile als
zeitgenössisch verkauft, gerade
weil es
keine wirklich
zeitgenössischen Alternativen dazu gebe.
Das
sei wahrlich gespenstisch. Der
Retromodus sei
damit
zum Standard geworden, i. e.
Stile,
Moden und Objekte, die Retro
seien,
würden
als
zeitgemäße Produkte verkauft, gerade
weil die
wirkliche Innovation
im
Jetzt nicht mehr stattfinde.
Wenn alles Retro
sei,
sei
es einerseits sinnlos, bestimmte Phänomene noch als Retro
zu bezeichnen, andererseits sei
auch nichts mehr Retro.
Die Zeit würde weiß. (Ebd.:
2015)

Letztendlich
findet damit
aber auch
immer
die
Insistenz
auf das
Zeitgenössische
statt, womit die Gegenwart als ewig ausgedehnt erscheint oder sich
dehnt wie niemals zerlaufender Käse. Das
Zeitgenössische gerinnt zu einer Zeit, die Gegenwart,
Vergangenheit
und
Zukunft okkupiert.
Mit
der Zeit ist
es dann
wie mit allen Transit-Orten - Einkaufszentren, Flughäfen, Museen und
Sportarenen: Sie ist
in
all ihren Dimensionen (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) völlig
austauschbar geworden, ganz egal, in welchem Jahr wir uns gerade
befinden.
Indem
sie austauschbar ist, ist sie auch standardisiert.

»Auf
der Höhe der Zeit zu sein«
war
schon
eine
Beleidigung
für
Nietzsche,
der zu Beginn seines Essays Vom
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
stolz
die Unzeitgemäßheit
des
Denkens proklamiert, »das
heißt
gegen die Zeit und dadurch auf die
Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit –
zu wirken.«
(Unzeitgemäße
Betrachtungen,
1).
Diese
Beleidigung besteht weiter.

Mehr
oder weniger resümiert Mark Fisher das,
was
Frederic Jameson
schon
lange
vor ihm beschrieben hat. Jameson registriert in der postfordistischen
Kultur eine Äquivalenz zwischen der beschleunigten
Zirkulation der
Differenzen
auf allen Ebenen der sozialen Aktivitäten, des
Designs der
Gebrauchswerte, der Symbole,
des
Habitus
etc., und gleichzeitig
deren
beispiellose Standardisierung und Funktionalisierung – Jameson
schreibt: »Aber dann dämmert es uns, dass keine Gesellschaft jemals
so standardisiert war, wie es diese ist, und dass der Strom von
menschlicher, sozialer und historischer Zeitlichkeit noch niemals so
homogen war.« (Jameson
1998: 57f.) Die
homogene Zeit
kriecht voran, und zwar nicht
mittels
der
kruden »nackten Wiederholung«, die immer nur dasselbe wiederholt,
sondern gerade mittels
der von Deleuze oft erwähnten »bekleideten Wiederholung« von
Differenzen, die
im
Zuge der Wiederholung der Variation die Bedingung ihrer eigenen
Wiederholung interiorisiert; i. e. »bekleidete Wiederholung« ist
die Interiorität des Werts als Differenz in sich selbst. Sie
wird von einer seltsam
stratifizierenden
Kraft dominiert

eine scheinbar mit bunten Inhalten gefüllten
Zeit, die jedoch der Kapitalisierung unterworfen bleibt.
Es
zirkuliert
permanent
der Schein
radikaler Neuheit,
während man in Wirklichkeit bewahrt.

Man
müsste nun von so etwas wie einer Versität (Gleichmachung)
sprechen, einer Inversion und Mutation der Diversität. Sie meint
nicht die Eliminierung von Differenz bzw.
der sozial-kulturellen Differenzierung, ganz im Gegenteil benutzt
Versität
die
Differenz als ihr reales Substrat, um bestimmte standardisierte
Organisationssysteme zu generieren. Ständig werden neue
Ordnungssysteme und Machttechnologien generiert, welche die
Differenzen absorbieren oder modulieren. (Die
Aktivitäten der gegenseitigen Beeinflussungen der jeweiligen
Netzknoten lassen sich mit Diffusions-Reaktionsgleichungen
beschreiben und dies führt zur Erkennbarkeit von Muster- und
Clusterbildungen, bspw.
von Krankheitsherden und -verläufen. Es ist auch leicht
nachzuvollziehen, dass sich mit Hilfe der Graphentheorie bestimmte
Parameter wie Dichte, Relation und Relata von ökonomischen Größen
im Kontext der monetären Transaktionen an den Finanzmärkten
abbilden bzw. illustrieren lassen. Dabei schaffen die algorithmischen
Infrastrukturen bestimmte Bedingungen für die Normalisierung und
Standardisierung der jeweiligen Kommunikationen und Transaktionen.
Biopolitische
Verfahren der Kontrolle werden qua »Big Data« präventiv
eingesetzt, so z. B. über die Auswertung der Daten bei Twitter
und
Google,
um daraufhin epistemologische Netzwerke aufzubauen, die der
staatlichen Biopolitik im globalen Kontext zur Früherkennung von
Aufständen und Epidemien aller Art dienen können.)

Hier
wäre
natürlich sofort
Adorno
zur Stelle, wenn er zur Kulturindustrie schreibt: »Der
Ausdruck Industrie ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht
sich auf die Standardisierung der Sache selbst – etwa die jedem
Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung
der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den
Produktionsvorgang.« (Adorno 1963: 339) Die
Rationalisierung der künstlerischen Verfahrenstechniken, man denke
etwa
an
das wohltemperierte Klavier, geht für
Adorno sukzessive
mit der Verwandlung der Kunstwerke, von Objekten, die eine Aura
umhüllt, in standardisierte Waren, einher. Eine
bestimmte
technische
Behandlung
des
künstlerischen
Materials
führt
laut
Adorno zur
seriellen Produktion
von Standardwaren,
die
je
nach Medium auf
ein überschaubares
Ensemble von Signalen zusammengeschrumpft sind.
Adorno
fasst zusammen: Kultur
heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen
ein System aus. Die
Aussage
erinnert zwar
an
bloße Ökonomie, jedoch will Adorno dies nicht als krude
Determinationskraft verstanden wissen, vielmehr ist für
ihn die
Kultur
ein
System, insofern
sich die
Ökonomie
in der Kultur als ihrem
Gegenteil realisiert. (Verbreitungstechniken
sind
für
Eshun die Nervensysteme des 21. Jahrhunderts und er
sieht sie
im
Gegensatz zu Adorno
positiv
- im
Rave,
im
Club
und bei
der Party.
Als Matrizen des futurhythmischen Diskontinuums sind sie
heute jedoch
eher
den Modi der Finance adäquat.)

Solch
eine Kritik an der standardisierten Kulturindustrie und ihren Waren
muss sich immer mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sich nur moralisch
darüber zu entrüsten, dass das Kapital ein Produkt mit einem Preis
versieht und es damit schon standardisiert hat, noch bevor der
Gebrauchswert qua Design standardisiert wird. Der naive Einspruch
gegen eine derartige Realität, die man zumeist als Warengesellschaft
tituliert, wird so vorgetragen, als sollte es irgendwie gerade diese
standardisierte Realität verbieten, aus dem Gebrauchswert eine Ware
zu machen. Angeödet von derlei Realität und gerade deshalb so
einverstanden, hat man als Kritiker vergessen, dass es überhaupt
nicht darauf ankommt, dem Zeitgemäßen vorzuwerfen, dass es
zeitgemäß ist, keinen Geschmack zu besitzen, sondern dass man die
Kraft zum Unzeitgemäßen herauszufordern hat, die nur eine Kraft des
Denkens sein kann. Oder nehmen wir den Geschmack. Darauf rekurriert
das Künstler-Subjekt gerne, es lässt, wie Adorno sagt, in seiner
Idiosynkrasie vom Geschmack sich leiten. Aber auch der Geschmack wird
längst durch die Remixing- und Samplingmaschinen des Kapitals
gedreht, er wird überkapitalisiert, überästhetisiert,
übermedikamentiert, mit Marken und Kunst überhäuft, er wird weiß
(das hat rein gar nichts mit dem Faden des Tao zu tun) – oder
wahlweise wird er im Zuge verklemmter Sparprogramme auf den
Ein-Euro-Geschmack reduziert. Was, wenn das Kapital selbst noch das
Remixing übernimmt und musikalische wie finanzielle Objekte in
multiplen Dimensionen behandelt?

Der
Konsument, soweit er dazu finanziell in der Lage ist, will heute
nicht nur sein Bedürfnis befriedigt, sondern auch seinen Wunsch
verführt wissen, und er will sein Selbstmodell durch den Konsum im
Sinne der Produktion eines Mehr (an Konsum) verändert wissen. Der
moderne Konsument ist der Produzent eines reflexiven Konsums, er
konsumiert nicht nur den Konsum, als Dienstleistender konsumiert er
auch die Arbeit, als Bürger ist er untoter Konsument. Der Wunsch
wird dabei weniger befriedigt, als dass er permanent angestachelt
wird, um sich an den Zerebralkonsum zu heften, der entweder das
Konsumieren konsumiert oder sich an Waren heftet, die mit Visiotypen
und Narrativen derart aufgeladen sind, dass sie ein Phantombild
konstruieren. Produkte (selbst die der Musik) sind heute weniger
Dinge als Phantombilder. Und so stellt sich für den Konsumenten die
Frage, ob er mit Coca Cola oder Pepsi Cola den Geschmack der Freiheit
trinkt oder wie er die Freiheit mit dem Konsum von Red Bull forciert.

Das Branding involviert die Produktion eines emotional-kognitiven Mehrgenusses, der mit der Etablierung der Markenware an Narrative wie Freiheit, Ordnung, Abenteuer oder Lifestyle gebunden ist und permanent gereizt wird. Dafür benötigt die Ware nach wie vor ein symbolisches Äquivalent, das Geld, um zu zirkulieren. Nur wenn das Geld bedeutungsoffen ist, kann es als leere Verweisungsstruktur fungieren, als ein sog. medialer Transporter, der die Waren und ihre Zeichen und Narrative unaufhörlich zirkulieren lässt. Baudrillard hat seine Theorie der Virtualität an die Zirkulation von Zeichen gebunden, die in der Zirkulation nur noch auf sich selbst verweisen und deren Bedeutung oder Wert ein reiner Simulationseffekt ist. Allerdings ist Baudrillards These, dass Bedeutung und Realität im Zeichen implodieren, nicht zuzustimmen, denn selbst noch die Bits als Zeichen müssen bedeuten, aber was sie bedeuten, ist eben gleichgültig.

Foto: Stefan Paulus

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