LiPuma
untersucht in einem weiteren Abschnitt die verschiedenen
Institutionen des spekulativen Kapitals. Der erste Bereich sind
Geschäfts- und Investmentbanken, die an den Derivatmärkten
spekulieren. Diese Unternehmen besitzen interne Hedgefonds, die mit
dem firmeneigenen Kapital spekulieren, das heißt mit dem Kapital der
Shareholder, und dabei gehebelte Strategien verwenden, um den
Shareholder-Value zu erhöhen. Weitere Player sind die unabhängigen
Hedgefonds, die vom Niedergang der langfristigen Strategien und der
steigenden Volatilität an den Kapitalmärkten profitieren. Ein
relativ neuer Akteur sind die finanziellen Abteilungen der großen
multinationalen Unternehmen, die schneller wachsen als die
industriellen Abteilungen und selbst als Nicht-Banken an den Geld-
und Kapitalmärkten spekulieren. Dann gibt es noch die vom US_Staat
unterstützen Unternehmen wir Fannie Mae und Freddie Mac. Sie
verfügen über riesige Geldsummen, die sie zum Teil in die eigenen
Hedgefonds investieren, um die Akkumulation ihres spekulativen
Kapital zu beschleunigen.
(Chesnais
charakterisiert die Finanzialisierung mit acht Gesichtspunkten: 1)
Die Multiplizierung des Kapitals als geistiges Eigentum. 2) Höhere
Kapitalkonzentration. 3) Finanzialisierung der nicht-finanziellen
multinationalen Unternehmen. 4) Die Vervielfältigung des
Kreditwesens durch das Schattenbanksystem. 5) Die Automatisierung des
finanziellen Kapitals in relativer Unabhängigkeit von den
materiellen Bedingungen. 6) die Valorisierung des Geldkapitals, die
er allein dem fiktiven kapital zuschlägt, in relativer
Unabhängigkeit von der industriellen Produktion. 7) Die Verklebung
des sozialen Lebens durch den Geldfetischismus. 8) Die Unterordnung
der Arbeit unter das Finanzsystem.)
Das soziale
Leben wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend globalisiert,
fragmentiert und ohne die Mitwirkung des Staates dezentralisiert. Die
globale Ordnung gleicht heute einem derivativen Markt, sie ist
omnivor, insofern sie alle möglichen Formen der Ökonomie umfasst,
wobei die Zirkulation des finanziellen Kapitals die hegemoniale
Dimension darstellt. Und das spekulative Kapital bildet die
Speerspitze der globalen Märkte. Auf einer oberflächlichen Ebene
entkoppelt sich das zirkulierende finanzielle Kapital ganz von der
Produktion, aber auch einer strukturellen Ebene gräbt es sich auch
immer tiefer in die Prozesse der Produktion ein und löst dor
Krisenprozesse aus, indem es eine neue Art und Weise, den Reichtum zu
produzieren und zirkulieren zu lassen, in Gang setzt, und zwar durch
eine transnationale Versicherungsmaschinerie, welche das Design und
die Verteilung der Risiken, die in der Zirkulation des Kapitals
implementiert sind, ständig neu redesignt. Und das mittels eines
mathematischen, statistischen, digitalen Apparats und einer
spezifischen Wissensform, die darauf hinausläuft, dass die
Mathematik und die ökonomische Realität gleichgesetzt werden. Dies
führt dazu, dass die finanziellen Modelle den Punkt liquidieren, der
den mathematischen Raum als eine platonisch-ideelle Sphäre vom
sozialen Raum trennt. Das ist insofern wichtig, als die Analyse der
Derivate nicht von der Produktion des Wissens und seiner Zirkulation
getrennt werden kann, ja es findet in der ökonomischen Theorie eine
Objektivierung statt, welche die relationalen sozialen Objekte als
natürlich erscheinende Objekte konstruiert.
Um das
Soziale der Finanzmärkte zu diskutieren, untersucht LiPuma das in
den Dispositionen der an den Finanzmärkten arbeitenden Akteure
verkörperte Soziale sowie das Soziale solcher Institutionen wie
Hedgefonds, das implizite Soziale der Derivate selbst und das Soziale
der Strukturen der Handelspraktiken. Dies alles sind Objektivierungen
des Sozialen. Die Objektivierungen sind in sozio-ökonomischen
Strukturen anwesend, die wiederum durch die Finanzmärkte gestaltet
werden: Das Derivat, der Markt, die Logik des spekulativen Kapitals,
die Finanzialisierung der Haushalte durch Verschuldung, das Auftreten
der Risiken als eine soziale Mediation, die Existenz neuer Formen der
Zeitlichkeit, eine zunehmend abstrakte Form der strukturellen Gewalt,
die Dominanz der Zirkulation gegenüber der Produktion. Die
Finanzmärkte benutzen all diese Strukturen, um Bilder,
Informationen, Währungen und Assets aller Art zu monetarisieren. Das
Soziale, das durch die sozio-ökonomischen Strukturen organisiert
wird, ist institutionell in den Wettbewerb der Akteure implementiert.
Dieser Wettbewerb bezieht sich auf den sozialen Status, die
Konzeptionen der Arbeit, Initiationsriten, auf Sensibilitäten und
die Selbstidentität, auf Fairness und Bilder der emerging markets,
auf das spekulative Ethos, die Lebensführung, die durch die Finance
bestimmt wird, auf das Vertrauen in die Mathematik und schließlich
auf die Immersion einer derivaten Logik, welche die Geschichte und
das Soziale naturalisiert. Je erfolgreicher die spekulative Logik in
den Habitus der Markteilnehmer eingeimpft wird, desto stärker
vertreten diese gemeinsam ein unhinterfragbares Ensemble von
Standpunkten, generativen Schematas und Dispositionen, und desto mehr
wird das Soziale durch das Feld ihrer Visionen auch verdunkelt.
Das erste
Resumee könnte wie folgt lauten: Die Marktteilnehmer geben sich
genau den Märkten hin, die sie selbst aktiv produzieren und
reproduzieren, und zwar durch die Verkörperung von generativen
Schemata, die in ihren Arbeitsregimen verkörpert sind. Die
Konstruktion des Sozialen als ein abstraktes Objekt, das durch das
Risiko identifiziert und qualifiziert wird, reduziert das Soziale auf
das finanzialisierte Kalkül. Das Soziale wird dabei selbst noch von
solchen Analysen verdunkelt, welche die Finanzmärkte als ein
Spektakel konstruieren, als eine externe Realität, die man am besten
versteht, wenn man die Verhaltensweisen der Marktteilnehmer bezüglich
des Handels der Assets beobachtet – Verhaltensweisen, welche das
Wissen produzieren, das die Teilnehmer benötigen, um es profitabel
in genau diejenige Realität einzusetzen, die von der Theorie
beschrieben wird.
Schließlich
werden die Finanzmärkte durch eine asoziale instrumentelle
Rationalität zusammengehalten. Dem liegt erneut die Logik des
abstrakten Risikos zugrunde, die in einer Zahl, nämlich die des
Derivatpreises, kristallisiert ist. Das affirmative Wissen über die
Finanzmärkte verdichtet sich in den Annahmen über die rationalen
Agenten, in der Vereinheitlichung der Informationen und der Idee von
der Abgeschlossenheit eines perfekten Marktes. Für LIPuma ist es die
“efficient market hypothesis”, welche im Kern das repräsentiert,
was er “Illusio” nennt, insofern sie als eine Voraussetzung für
die scholastischen Analysen und als ein Haltepunkt im Spiel an den
Finanzmärkten dient. Die Illusio bezieht sich weniger auf
theoretische Inkonsistenzen als auf bestimmte Formen der Verkennung,
die stets auch Komponenten der realen Relationen der Produktion von
finanziellen Zirkulationen bleiben.
So sieht
LiPuma eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem finanziellen
Trader und dem Poker-Spieler, die in einer sozial erzeugten Gier
besteht, die ausschließlich das Geld zählt, wobei es niemals eine
Grenze für den Wunsch gibt, weiter Geld zu akquirieren, weil dieses
selbst das Mittel ist, um das Spiel am Laufen zu halten. Diese
sozio-spezifische Form der Gier, welche die Verhaltensweisen und das
Denken der Marktteilnehmer beherrscht, basiert ganz auf der
Akquirierung von Geld. Es gibt eine performative Kreation des
finanzialisierten Subjekts durch die permanente Wiederholung der Akte
der Akquisition von Geld, die durch einen tief sitzenden, unbewussten
Zwang getrieben sind, dessen Erscheinung in den alltäglichen
Praktiken der finanziellen Akteure die Form eines asozialen
Triebgeschehens annimmt.
Um das
Soziale weiter zu verstehen, gilt es die außerordentliche Lücke zu
berücksichtigen, und zwar zwischen den ökonomischen Modellen, die
gebraucht werden, um den Markt zu modellieren, und den Begründungen,
diese Modelle zu gebrauchen. Es ist an dieser Stelle das Paradox zu
konstatieren, dass die Finanzökonomie einerseits die Investition
benötigt und damit die Abhängigkeit von einem Set von finanziellen
Modellen bestätigt, die dazu da sind, das Risiko zu bestimmen
(Modelle, welche systematisch die Kräfte der sozialen Unsicherheit
umklammern), und dass andererseits eine Performativität benötigt
wird, welche die Voraussetzung für den Erfolg der Modelle und die
Fortführung der Märkte ist. Damit sind die Aktionen der
vereinzelten Agenten intrinsisch kollektiv. Der Handel mit Derivaten
und die Spekulationen auf ihren zukünftigen Wert, die voraussetzen,
dass die Agenten das nicht vorhersehbare abstrakte Risiko anerkennen,
sind für die Agenten selbst nur möglich, wenn sie selbst bestimmte
Dispositionen einnehmen, die wiederum auf plurale Formen der
Rationalität bezogen sind (die Maximierung des Profits, die
wettbewerbliche Dynamik, das Selbstwertgefühl, das spekulative Ethos
und selbst ein gewisser Nationalismus). Diese Dispositionen, welche
jeden Kauf und Verkauf von Derivaten und zudem die Vergangenheit mit
der Zukunft vermitteln, beruhen auf der Relation zwischen der
Organisation dieser Dispositionen, die konstitutiv für den Habitus
der Agenten sind, und der Struktur der Möglichkeiten, die
konstitutiv für das finanzielle Feld zu jedem erdenklichen Zeitpunkt
sind. Das finanzielle Feld und die spezifischen Märkte benötigen
die kognitiven und generativen Schemata, welche die Agenten in ihren
Versuchen das Feld und die Märkte zu erfassen, implementieren. Die
Märkte besitzen für LiPuma eine performative Dimension, welche das
ihnen inhärente Ritual unterstützt, das in den sozialen Praktiken
verkörpert ist. Die Derivate sind also als relationale Objekte zu
verstehen, die innerhalb des sozialen Imaginären der Märkte
funktionieren. Sie existieren nur, insofern sie in den Praktiken der
Agenten objektiviert sind und als solche auch interpretiert werden
können.
LiPuma
bemüht sich über den ganzen Text hinweg immer auch um die Analyse
einer durch und durch monetarisierten Subjektivität, die auf der
permanenten Akquisition von Geld beruht. Diese ist eigentümlich für
die Relation zwischen den Märkten und den Marktteilnehmern, die
bereit sind, das spekulative Spiel mitzuspielen. Was die Trader
wirklich motiviert, in das Game zu investieren, das ist komplexer als
die neoklassische Definition eines Agenten, der seinen Nutzen
maximiert, oder als die populäre Vorstellung einer anthropologisch
fundierten Gier.
Ständig
greift LiPuma auch das Thema »Liquidität« auf. Die Liquidität ist
mehr als nur eine Metapher für die monetäre Fluidität des Marktes,
vielmehr betrifft sie die Kapazität der Ökonomie, Kapital
zirkulieren zu lassen, i.e. die frei flottierende Zirkulation von
Geldkapital ist eine notwendige Bedingung für die Existenz der
Ökonomie im 21. Jahrhundert. Konstitutiv für diese Ökonomie ist
heute also die Zirkulation des spekulativen Kapitals, zudem der
Gebrauch der neuen Informationstechnologien, um die Kapitalströme zu
gestalten und zu beschleunigen und schließlich die technologisch
unterstützte Produktion des Wissens voranzubringen, welche die
Marktteilnehmer bei ihren Entscheidungen spekulativ und global zu
handeln, rund um die Uhr informieren. Die Liquidität wird häufig
als ein Synonym für die sozialen Relationen gebraucht, die es den
Agenten erlauben, das kollektive Unternehmen zu konstruieren, das der
Markt ist: Ein Markt, der für einen Vertragspartner immer den
Gegenpart bereithält, ein Markt, der homogen ist und permanent die
Volatilität zur Verfügung stellt, welche erst die Rekalibrationen
ermöglicht, die für die Fortführung des Marktes notwendig sind. Es
gibt einen notwendige Verbindung zwischen den kontingenten und oft
unvorhersehbaren finanziellen Ereignissen und der Konstruktion des
Marktes als Totalität. Die Derivatmärkte sind unbedingt abhängig
von der Liquidität.
Im Gegensatz zu klassischen Waren wie Häusern und anderen Produkten besitzen Derivate keinen intrinsischen Wert, sie besitzen auch keinen ordinären Gebrauchswert. Für LiPuma sind sie eine Nullsummen-Wette auf extrinsische Einkommen zwischen konkurrierenden Parteien. Dabei müssen die Marktteilnehmer auf die an den Märkten vorhandene Liquidität und an den Preismechanismus auf Basis der Nicht-Arbitrage unbedingt vertrauen. In der letzten Finanzkrise ist die Liquidität an den Kreditmärkten innerhalb kurzer Zeit fast völlig verdampft. Die finanziellen Institutionen horteten das Kapital anstatt es zu investieren, da sie fürchteten, dass ihre Kontrahenten schon insolvent und damit die Preissetzungen von Derivaten ineffizient sein könnten. Selbst die Market-Maker wurden von der Furcht ergriffen, dass das nächste finanzielle Ereignis schon die Insolvenz der Konkurrenten anzeigen könnte. Damit verloren die Marktteilnehmer schnell das Vertrauen untereinander und schließlich in die Märkte selbst. Zuerst fand in den USA ein Deleveraging bezüglich der Hypothekenkredite und der auf sie bezogenen Derivate statt. Die Kreditgeber litten an der sich beschleunigenden Akkumulation nicht-performender Assets, die ihre Bilanzen nahezu bedeutungslos machten, was eine ganze Reihe von finanziellen Institutionen betraf, angefangen von den Hedgefonds und Versicherungen über staatlich unterstütz Organisationen bis hin zu den Investmentfonds, deren auf Hypothekenkredite bezogene Derivate schnell an Wert verloren. Das Gespenst der Insolvenz ging rasend schnell um und eine tiefe Unsicherheit übernahm die Kontrolle über die finanziellen Agenten und ihre Institutionen. Die finanziellen Institutionen gingen also nicht wegen mangelnder Vermögen und fehlenden Kapitals, sondern aufgrund fehlender Liquidität insolvent. Es war, und das gilt es in Erinnerung zu halten, die Erfindung der auf Liquidität basierenden Derivate, welche selbst Häuser zu Finanzanlagen machten.
Die Securization ist eine synthetische Form der Zirkulation, die mittels Instrumenten geschieht, welche darauf basieren, Sachverhalte und Größen wie Zinsraten, Insolvenzen, Währungsrisiken und Derivatpreise zu kalkulieren, kontrollieren und zu kapitalisieren. Die Derivate sind nicht in der Produktion verankert, sondern in der Zirkulation begründet – in und durch die Geldströme, welche wiederum auf die Liquidität bezogen sind. In der Produktionssphäre gilt das Geld als das allgemeine Äquivalent, das den Wert der Waren misst, in der Welt der Zirkulation der Derivate, die in Geld realisiert werden, ist das Geld ganz auf sich selbst bezogen, wobei nicht nur Derivate selbstreferenziell zirkulieren, sondern selbst noch das Underlying zu einer abstrakten Relation transformiert wird. Da alle Marktteilnehmer mit einer ähnlichen Palette von Modellen, Konzepten und Motivationen arbeiten, imaginieren sie die Fabrikation der Derivate als eine simple Expansion eines wiedererkennbaren Typus von Instrumenten, was wiederum für die Community heißt, dass die Derivate als Ressource für Profite zu jeder Zeit effizient zu managen sind, gerade weil die Derivate ein akzeptiertes Modell sind, das akkurat die Volatilität der Preise oder das Verhalten der Marktteilnehmer vorauszusehen ermöglicht.
Das
spekulative Kapital besitzt geradezu den Effekt, Märkte mit
steigender Volatilität und höheren Risiken zu erzeugen. Dabei
erreicht die Zirkulation des spekulativen Kapitals eine gewisse
Autonomie, die durch die Erfindung von derivativen Instrumenten, die
Abstraktion und die Transformation von Unsicherheit in
quantifizierbare Risiken und die Proliferation des spekulativen
Kapitals selbst gekennzeichnet ist. Diese Prozesse setzen eine
beschleunigte Komplexität und eine steigende Konnektivität in Gang,
sodass die finanziellen Institutionen immer stärker voneinander
abhängig werden, obgleich gerade dies weitgehend unsichtbar bleibt.
Diese »quantum interdependence«, bei der das Schicksal des
Einzelnen an das Schicksal des Kollektivs gebunden ist, ist auch ein
Resultat der Nachfrage der Trader nach einer immer höheren
Liquidität. Und diese Liquidität ermöglicht wiederum ein höheres
Leverage, wobei die Kosten der Kreditvergabe auf der Perzeption des
Verleihers beruhen, wie einfach und effizient er im Falle des
möglichen Ausfalls Kredite abstoßen oder den Ausfall kompensieren
kann. Wenn die Kreditgeber ein positives Vertrauen in die Liquidität
an den Märkten haben, dann fallen die Kosten für das Leveraging der
Transaktionen, während gleichzeitig die Möglichkeiten für das
spekulative Kapital ansteigen. Und die Konnektivität, die auf dem
kollektiven Vertrauen der Marktteilnehmer auf der reibungslosen
Funktionalität der Märkte beruht, wird damit auch steigen. Dabei
werden die Derivate heute zu 90% an den nicht regulierten OCT-Märkten
gehandelt, was heißt, dass sie keine standardisierten Produkte
sind.
In
zeitlicher Hinsicht perpetuiert das zirkulatorische Kapital den
Tretmühleneffekt. Was für die Trader kurzfristig rational sein
kann, ist eventuell unter systemischen Gesichtspunkten irrational und
destruktiv. Die strukturelle Dynamik der Verbriefungsketten ist aus
anderen Texten bekannt, sie resultiert in der Notwendigkeit das
Leverage der Portfolios ständig zu steigern, indem man durch das
Ausleihen von kurzfristigen Geldern mit niedrigen Zinssätzen das
Geld zur Finanzierung der längerfristig laufenden CDOs mit höheren
Zinssätzen besorgt. Dies war bei der letzten Finanzkrise möglich,
weil zwei Zyklen des Leverage aufeinander bezogen wurden: Die
Hausbesitzer hebelten ihre Häuser als Finanzanlagen und die Manager
ihre Portfolios, womit die beiden miteinander vernähten Märkte
durch die direktionalen Dynamiken in eine sich gegenseitig befeuerte
Instabilität trieben. Wenn jedes an den verschiedenen Finanzmärkten
erreichte Hoch ein neues Plateau darstellt, von dem aus das
spekulative Kapital die Möglichkeit fallender Profite ausschließen
will, dann führt gerade dies zur Krise als einem systemischen
Fehler, obgleich von den diversen Versicherungsgesellschaften immer
wieder und weiterhin behauptet wird, dass es systemische Fehler nicht
gäbe.
LiPuma nennt
drei Faktoren, die für die Finanzkrise ausschlaggebend waren: Die
Strategien der Verbriefung waren inhärent an eine Phase der
Euphorisierung gebunden, angefangen von den Hypothekenkrediten bis
hin zu den Derivaten. Da alle Systeme, in die der Mensch eingebunden
ist, intrinsisch sozial sind, kann das Potenzial von Fehlern, welch
das System enthält, nicht auf indivíduelle Aktionen oder die
Dispositionen der Agenten reduziert werden. Schließlich ist die
gegenwärtige Kapitalökonomie an den Tretmühleneffekt gebunden,
insofern der Druck, der durch die Konkurrenz an den Finanzmärkten
erzeugt wird, das Kapital immer näher an seinen eigenen Abgrund
schiebt. Es werden dabei auch sozial kollektive Dispositionen
geschaffen, welche das Verhalten der einzelnen Akteure in eine
bestimmte Richtung lenken.
Das zentrale
Argument, das LiPuma in dem Abschnitt über die Temporalität des
spekulativen Kapitals herausarbeitet, besagt, dass die Derivatmärkte
selbstreferenziell eine zeitliche Progression in Gang setzen, mit der
das abstrakte Risiko bis zu einem Level vorangetrieben wird, an dem
selbst kleine Turbulenzen an den Märkten zu einem systematischen
Zusammenbruch führen können. Die Neigung zur Instabilität, welche
die Krise induziert, baut also auch auf der zeitlichen Dynamik der
Märkte auf. Es gibt eine direktionale Dynamik, die auf ein steigende
Komplexität und Instabilität der Märkte hindeutet, die LiPuma mit
dem Tretmühleneffekt zu erklären versucht. Damit muss unbedingt die
Problematik der Zeit, nämlich die Diskrepanz zwischen der abstrakten
Zeit und der Zeit der Agenten angesprochen werden, Zeiten, die
wesentlich verschieden sind. Drüber hinaus besitzt das finanzielle
Feld eine Vielzahl von Zeitlichkeiten, die miteinander verflochten
sind.
Einige
Zeiten zeigen insbesondere das Soziale an den Finanzmärkten an. Da
sind zum ersten die historischen Trajektoren zu erwähnen, da die
Finanzökonomie sich in ihren Strukturen seit den 1970er Jahren
dramatisch verändert hat, wenn es etwa um die Erfindung neuer
finanzieller Produkte, Gefüge und Formen spekulativen Kapitals geht,
die von den Akteuren wiederum als spekulativer Ethos verinnerlicht
werden. Das entscheidende Feature ist hier für LiPuma der
historische Aufstieg des zirkulatorischen Kapitals als Koevolution
des spekulativen Kapitals, der Hedgefonds und anderer genuin
spekulativer Investments sowie der von abstrakten Risiken
angetriebenen Derivate. Auf einem granularen Level betrifft diese
Evolution eine neue Form von Temporalität, die über die Finance und
ihren Einfluss hinausreichen. Es gibt an den Finanzmärkten eine
zeitliche Dynamik zu vermelden, deren Richtung hin zur Entropie
verläuft, welche anzeigt, dass Krisen den Derivatmärkten immanent
sind. Dabei können die einfachen linearen Modelle, wie sie
quantitative Analysten immer noch anwenden, die komplexen und
abstrakten Zeitlichkeiten an den Finanzmärkten kaum erfassen.
Es ist
schließlich die Zeitlichkeit der abstrakten Risiken, welche die
Finanzmärkte fundiert und vorantreibt. Um Profite im Nullsummenspiel
zwischen zwei Vertragspartnern (der Gewinn des Einen ist der Verlust
des Anderen, auf mikroökonomischer Ebene) zu generieren, muss die
Richtung der Volatilität antizipiert werden, die durch das abstrakte
Risiko vorgegeben wird. Aufbauend auf dem Konsens der Marktteilnehmer
und der Richtung der Volatilität, die von bestimmten Komponenten des
abstrakten Risikos beeinflusst wird, hängen die Profite, die an den
Märkten generiert werden, davon ab, dass die Preise in die
gewünschte Richtung rekalibriert werden. Dabei geben die Akteure
sich einem Narrativ hin, das davon erzählt, dass es die Derivate
selbst seien, die sich auspreisen würden. Das Derivat wird als der
Agent identifiziert, der die Preissetzung vornimmt und damit werden
die sozialen Umstände der Rekalibration der Preisbewegungen
ausgeblendet. Zudem wird ausgeblendet, dass die konstante
Rekalibration der Derivats angesichts eines flows von unsicheren
ökonomischen und politischen Ereignissen stattfindet. Diese
temporale Kontingenz kann nur nullifiziert werden, wenn man sozusagen
eine vollkommen reine Arbitrage annimmt, die aber gerade von den
Modellen ausgeschlossen wird.
Neben der
Volatilität bzw. den Preisfluktuationen ist also die Zeit eine der
wichtigen Variablen, welche den Derivatvertag designt und definiert.
Mit ihrem Design befinden sich die Derivatverträge innerhalb einer
vordefinierten zeitlichen Parenthesis. Die Finanzökonomie reduziert
die Zeitlichkeit an den Finanzmärkten auf eine abstrakte und formale
Zeit, die als umkehrbar, sicher und einer transhistorischen Logik der
Maximierung des Nutzens zugehörig angenommen wird. Dies steht
allerdings im scharfen Kontrast zu den aktuellen Praktiken der
Akteure an den Finanzmärkten, welche die Zeitlichkeit der
mathematischen Modelle ständig überschreiben und diskontieren.
Zuletzt weist LiPuma noch auf die Zeitlichkeit der Arbeitsplätze in
den Finanzunternehmen hin. Sie muss im Rahmen der Untersuchung des
finanziellen Habitus der Agenten analysiert werden.
Derivatmärkte
sind inhärent so instabil, dass ihre Volatilität oft extrem
ansteigt. Ihre Zyklen bewegen sich mit steigenden Levels des Leverage
(wachsende Risiken), der Komplexität und der Instabilität. Die
Derivatmärkte werden intern durch den sog. Tretmühleneffekt
vorangetrieben, was auch bedeutet, dass sie zum Ende eines Zyklus
immer instabiler werden; sie erzeugen selbstreferenziell einen
zeitlichen Zuwachs mit steigenden Levels der abstrakten Risiken, bis
zu dem Zeitpunkt, an dem selbst kleine Turbulenzen einen systemischen
Breakdown erzeugen können.
Je
umfangreicher an den Finanzmärkten extrem hohe Profite realisiert
werden, desto mehr spekulatives Kapital fließt in die Märkte,
womit der intensive Wettbewerb zwischen den Finanzunternehmen
forciert wird, der wiederum die Motivationen der Marktteilnehmer, das
Leverage zu erhöhen, vorantreibt. LiPuma nennt dies den
pathologischen, progressiven Impuls der modernen Derivatmärkte. Der
Tretmühleneffekt und seine Regulation liegen im Zentrum der Ökonomie
und der Kultur der finanziellen Zirkulation.
Im Oktober
1987, an dem sich die Aktienmärkte vor allem in Asien im freien Fall
befanden, sieht LiPuma erstmals den Tretmühleneffekt in all seiner
Wirkung. Er zeichnet diesen Effekt anhand der Asienkrise genauestens
nach: Ausgehend von Portfolio-Versicherungen, die abgeschlossen
wurden, um (mittels Optionen) den Fall der Aktienpreise zu hedgen,
bis hin zum Verfall der Liquidität an den Märkten (eine Masse von
Verkaufsorder trifft auf keine Nachfrage mehr). Mit den
Short-Positionen sollten die Verluste an den Aktienmärkten
ausgeglichen werden. Als aber immer mehr Future-Verträge verkauft
wurden, setzte der Tretmühleneffekt ein. Die Käufer insistierten
auf einem reduzierten Preis der Derivate und erhöhten damit das
Risiko, und sie hedgten ihre langfristigen Fukture-Verträge selbst,
indem sie unterliegende Aktien verkauften. Diese senkte wiederum die
security prices und leitete eine neue Runde im dynamic hedging ein.
Als der Aktienhandel einbrach, waren die Stock Index Futures nicht
mehr zu lesen oder zu kalkulieren, sodass den Future-Verträgen, die
sich im Herzen des dynamic Hedging befanden, kein bestimmter Wert
mehr zugeordnet werden konnte. In solch einem Fall kann die
Wiederherstellung der Liquidität an den Märkten nur durch externe,
das heißt nicht durch den Markt initiierte Interventionen geschehen.
Die
Verlockung für den Derivathandel ist das Versprechen, dass ihr
Return viel höher als der auf Staatsanleihen oder auf Investitionen
in produktives Kapital ist. Dadurch werden immer mehr Teilnehmer in
die Märkte geschleust, womit sich sowohl die Nachfrage nach
Derivaten als auch die Volatilität erhöht, und zwar durch die
Einführung eines extrem mobilen spekulativen Kapitals, was man heute
euphemistisch als schnelles oder heißes Geld bezeichnet.
In diesen
Prozessen ist das Kopieren erfolgreicher Strategien und Ideen ein
übliches Muster des Verhaltens der Marktteilnehmer, sodass aus
wenigen lukrativen Trades schnell die Trades der Massen (crowded
trades) werden. Für Individuen, die sich an den Märkten befinden,
ist das in kurzfristigen Zeiträumen stattfindende und
konkurrenzgetriebene Trading vollkommen rational, indem sie oft genug
einfach die Shareholder-Postionen solcher Unternehmen wie Citigroup
oder Goldman Sachs kopieren oder hohe Renditen wie die der Hedgefonds
Greenlight Capital oder Citadel Investment Group zwingend erwarten.
Für die
Banken und die finanziellen Institutionen großer Konzerne zeigt sich
der Sharholder-Value in den Aktienkursen ihrer Unternehmen an, wobei
die Trajektoren dieser Preise in den vierteljährlichen Berichten und
Konferenzen festgehalten werden. Die entscheidende metrische Variable
für den Anstieg des Shareholder-Values ist das sich beschleunigende
Wachstum der Revenues. Dies betrifft sowohl die Menge der Assets, die
ein Fondsmanager verwaltet, als auch die Rate des Rückflusses eines
Portfolios. LiPuma sieht drei wesentliche Charakteristiken für die
Struktur der in diesen Vorgängen implizierten Strukturen der
Anreize: Sie sind kurzfristig, wettbewerblich organisiert und
vollkommen monetär durchtränkt. Alles ist um den kurzfristig
organisierten Wettbewerb zwischen den sich im finanziellen Feld
befindenden Teilnehmern zentriert. Unter diesen Bedingungen darf kein
Trader eine als profitabel geltende Derivatposition versäumen, egal
welche Risiken in Zukunft noch auftauchen könnten.
Lukrative
Geschäfte an den Märkten ziehen heute sofort enorme
Geldkapitalflüsse an, wobei mit der steigenden Nachfrage die
Renditen der Verkäufer fallen, wenn bestimmte Marktteilnehmer
dieselbe Position nachfragen. Es ist ein Charakteristikum der
Finanzmärkte, dass es eine zeitliche Kompression gibt, mit der die
Beschleunigung der Trades die Margins und Renditen eines Unternehmens
dünn werden lässt. Die Antwort der Trader darauf ist, dass sie ihr
Leverage erhöhen, worauf wiederum die Masse der Trader mit der
Anwendung derselben Strategien antworten muss. Ein wichtiger Punkt
des Tretmühleneffekts besteht einfach darin, dass die Progression
des Marktes es erfordert, dass die Marktteilnehmer ihre
Risikobereitschaft ständig erhöhen. Unvorhergesehene Risiken und
Probleme können daher zu gigantischen Swings in der Volatilität
führen, die sich gegenseitig aufschaukeln. Diese Swings in der
Volatilität werden übertrieben, wenn Hedgefonds, die mit einem
hohen Leverage arbeiten, auf langfristige Papiere wie
Hypothekenkredite angewiesen sind, aber schnelles Geld besitzen, das
kurzfristig angelegt werden soll.
Was in
diesem Kontext für die Akteure kurzfristig rational sein kann, wird
für den Markt als Ganzes zum Problem. Finanzielle Krisen sind nicht
einfach Konsequenzen von zufälligen Ausbrüchen, wie Nicholas Taleb
das mit seinen »Black Swans« angenommen hat, sondern sie sind
Resultate einer strukturellen Tension/Spannung oder Störung, die den
Zeitlichkeiten der Finanzmärkte immanent ist. Dabei können externe
News durchaus die Krisenprozesse beschleunigen. Die Dauer des
Niedergangs der Liquidität wiederum korrespondiert der strukturellen
Anfälligkeit der Märkte, zu der die hoch gehebelten
Derivatpositionen beitragen, die besonders für beschleunigte
Liquidationen anfällig sind.
Zentral für
die zeitliche Dynamik an den Finanzmärkten ist die Kategorie des
Risikos, denn dieses ist die Essenz für die spezifische Form der
Wetten, die sich für das spekulative Kapital mit den Derivaten
artikuliert. Und dies kreiert ein soziales Feld, das dadurch
charakterisiert ist, dass die Marktteilnehmer die Risikostruktur
unbedingt in ihre Habiti einbeziehen müssen. Das systemische Risiko
zeigt sich dann im Vertrauensverlust an die Zahlungsfähigkeit der
Gegenparteien an und wird als gegenseitige Einschränkung der
Liquidität realisiert. Es wird eine Bewegung in Gang gesetzt, mit
der die Realisierung einer bestimmten Höhe der Profitabilität zum
Basislevel desjenigen zeitlichen Rahmens wird, auf den künftig
referenzialisiert wird. Egal, was an den Märkten konkret passiert,
die systemische Dimension des Risikos, die auf den Markt als Ganzes
bezogen ist, kann eine Krise auslösen. Dies ist der modus operandi
der Finance und der Derivate, insofern das Risiko gleichzeitig aber
eine konkrete spekulative und eine sozial generierte Aktivität ist,
welche den Markt mit seiner systemischen Kohäsion durchtränkt.
Dabei ist der Preisverfall der Derivate während einer Krise
keineswegs auf ein falsches Auspreisen zurückzuführen, vielmehr
drückt der Preis des konkreten Risikos die Zeitlichkeit des
systemischen Risikos aus. Das falsche Auspreisen zeigt den internen
strukturellen Zustand der Märkte an, der durch den Tretmühleneffekt
angetrieben wird. Dabei widerstreben sich zwei notwendige Tendenzen,
nämlich die Notwendigkeit, das Risiko zu erhöhen, und die
Notwendigkeit, die Integrität des Marktes zusammenzuhalten. Diese
beiden gegensätzlichen Tendenzen produzieren eine
intrinsisch-strukturelle Spannung, die sui generis sozial ist und
zugleich in der Logik des spekulativen Kapitals selbst liegt. Diese
immanente Logik besagt nicht, dass der Markt einer linearen Logik
folgt und systemisch zusammenbrechen muss, aber sie begründet die
Möglichkeit von Krisenprozessen, die den Finanzmärkten immanent
sind.
Strukturell
konzentriert sich die Temporalität der finanziellen Geldströme auf
Kurzfristigkeit, ja auf das Kurzfristige, das gerade möglich ist.
Dies zeigt sich auch an der permanenten Suche des spekulativen
Kapitals nach neuen Arbitrage-Möglichkeiten, eine Situation, bei der
gegensätzliche Positionen die Risiken neutralisieren bzw. den
time-lag zwischen dem Beginn der Derivat-Position und dem gesetzten
Verfallsdatum. Diese Mechanismen setzen die Direktionalität und die
Kompression der Zeit in Gang, sei es bezüglich der derivativen
Positionen oder des Versuchs, das spekulative Kapital so optimal wie
möglich zu verwerten.
Es muss also
konstatiert werden, dass die Zeit selbst eine Form des abstrakten
Risikos konstituiert. Oder, um es anders zusagen, Zeit ist eine
ubiquitäre Form des Risikos, die für jeden Typus des Derivats gilt.
In der Produktion minimieren die Akteure extern generierte Risiken,
indem sie die Zeithorizonte verlängern. Ein inverses Set von
Risikobedingungen determiniert hingegen die Zirkulation. Da jedes
Derivat ein Verfallsdatum und die in ihm involvierte Zeitperiode
keinen externen Referenten hat, ist die Zeit sowohl eine Quelle als
auch eine quantifizierbare Dimension des Risikos. Für das
spekulative Kapital bedeutet die Minimierung der Risiken eine
Kompression oder Neutralisierung der Effekte der Zeit und dies
betrifft Faktoren wie die Volatilität, Marktinstabilität und das
Auftauchen von kontingenten Ereignissen. Diese Stauchung der Zeit
besitzt aber auch einen qualitativen Effekt: Das spekulative Kapital
generiert über das Mittel der Konnektivität, das Derivative, ein
Ende in sich selbst; das Derivat dient als Quelle der Profite und der
eigenen Reproduktion. Die daraus entstehende Kultur und Ökonomie der
Finance bringen neue soziale Formen wie die des abstrakten Risikos
hervor, neue Technologien wie das Auspreisen der Derivate durch
mathematische Modelle und neue selbstbezügliche vertragliche
Arrangements. Faktoren wie Selbstreferenzialität, die Stauchung der
Zeit und die Monetarisierung des Risikos generieren die
Derivatmärkte, deren Konstruktion der Zeit kein notwendige Relation
zu den Märkten der Underlyings unterhält oder etwa zur Zeitlichkeit
der Institutionen, inklusive der finanziellen Institutionen.
Es gibt zwei
verschiedene Sichtweisen in der Finanztheorie, wie die Zukunft zu
behandeln sei; erstens ein ökonomisches Modell, mit dem behauptet
wird, dass die Unsicherheit an den Finanzmärkten selbst keine
Zukunft habe, da die Finanztheorie die adäquaten Instrumente und
Technologie zur effektiven Zukunftsbewirtschaftung besäße und eine
Zukunft, die zunächst als unsicher eingestuft wird, in ein
wahrscheinlichkeitstheoretisches Modell übersetzen könne, das
quantifizierte Risiken also effektiv behandle. Die zweite Sichtweise
betrifft die praktische Behandlung der Zukunft durch die Agenten an
den Finanzmärkten. Diese Konzept ist im Habitus der Akteure
begründet. Die Trader überschreiben in ihren Praktiken ständig die
Preise und die in den Verträgen festgelegten Bedingungen, sie
verhandeln den Preis neu und rekalibrieren ihn, indem sie sich auf
die sich verändernden Ströme von kontingenten Ereignissen beziehen,
und zwar durch die Prismen ihrer Sichtweisen der Märkte und der
Welt.
Die erste
Konzeption hat, indem sie die Konzentration weg von der Unsicherheit
auf das Risiko verlegt, in den letzten 40 Jahren die Infrastruktur
des theoretischen Wissens verändert. Die Schaffung eines
spekulativen Ethos, das die Akteure und die Institutionen anregt,
hohe Risiken einzugehen, korrespondiert der Annahme, dass es eine
gewisse Sicherheit bezüglich der Zukunft der Märkte gibt. Die
Sichtweise, die in den ökonomischen Modellen inskribiert ist,
besteht darin, dass die Zeitlichkeit der derivativen Instrumente
einer wissenschaftlichen Kontrolle unterliegt, da die Derivate exakte
Verfallsdaten besitzen und es möglich ist, die fluktuierende
Volatilität zu prognostizieren.
Die
Vorstellung, dass die Derivate immun gegen Kontingenzen seien,
eliminiert das Historische und das Soziale. Gerade die Finanzkrisen
zeigen aber immer wieder, dass die Derivatmärkte sich in Umgebungen
der Unsicherheit befinden. Unsicherheit ist eine destillierte und
multivariable Form, im Gegensatz zum Risiko als einer messbaren
Variablen. Es wird aber abgenommen, dass das von der Finanztheorie
konstruierte Modell des Marktes mit dem Modell identisch sei, das die
Akteure in ihrer Praxis benutzen, und dass es das Modell den Akteuren
erlaube, die Zukunft zu kennen und sie vorherzusehen, weil das Modell
das Risiko mathematisch korrekt darstelle. Man geht davon aus, dass
es einen wahren Preis gibt und immer Gegenspieler an den Märkten
vorhanden sein werden, welche Derivate kaufen. Für LiPuma gibt es
allerdings eine außerordentliche Diskrepanz zwischen den abstrakten
Annahmen der Finanztheorie bezüglich der Sicherheit an den Märkten
und den Erfahrungen der Trader, die ganz real mit einer großen
Unsicherheit an den Märkten konfrontiert sind. Es gibt deswegen eine
konfuse Vermischung zwischen dem Modell, das die ökonomische
Realität designt, und der Realität des ökonomischen Modells. Zudem
ist das Universum der Wahrscheinlichkeiten und ihrer Zusammenhänge
selbst eine unbekannte Wahrscheinlichkeit.
Es stellt
sich, wenn man das Soziale der Finanzmärkte untersucht, folgende
entscheidende Frage: Wie kann sich ein Markt über die Akte der
Replikation des Derivativen selbst reproduzieren? Die Analysen über
die Finanzmärkte vergessen allzu schnell, dass der Markt kein
simples Setting ist, an dem die Akteure bestimmte Transaktionen
exekutieren, sondern ein Mittel oder ein Rahmen, durch den die
Transaktionen der Akteure erst möglich werden. Die gängigen
Finanztheorien setzen einen Markt voraus, der seiner Natur nach eine
ontologische Integrität besitzt, welche Raum und Zeit transzendiert.
Ayache hat diese orthodoxe Sichtweise zum Markt in Frage gestellt.
Für Ayache werden an den Derivatmärkten kontinuierlich kontingente
Ereignisse abgewickelt, die durch ihre Kontingenz den
wahrscheinlichkeitstheoretischen Modellen, welche die
Finanzmathematik der Derivate begründen, nicht zugänglich sind. Die
Derivatmärkte sind also selbst Teil der derivativen
Preisbildungstheorie, was die herkömmlichen Finanztheorien sträflich
vernachlässigen.
Mit den
mathematischen Standardmethoden können die singulären finanziellen
Ereignisse nicht erfasst, sondern nur nachträglich interpretiert
werden. Die Derivathändler benötigen die
wahrscheinlichkeitstheoretischen Modelle aber nur, um über sie
hinauszugehen. Im Gegensatz zu den durch die Finanztheorie
hypostatisierten Märkten, rekalibrieren die aktuellen Märkte
konstant die Preise. In der Tat gibt es keinen Preis als den Spread
zwischen ask und bid. Dieser Spread muss kontinuierlich abgeglichen
werden, falls die Märkte überhaupt existieren und liquide bleiben
wollen: Der Marktpreis ist in jedem erdenklichen Preismodell der
Input und nicht der Output. Die Trader überschreiben den Markt
kontinuierlich in einer Art und Weise, welche die Modelle nicht zu
erfassen vermögen. Und dieses „rewriting the market“ ist im
Habitus der Trader verankert, der die Inskription des Konstituierten
ist, welches das Konstituierende strukturiert. Indem Ayache sich auf
Bergson bezieht, kann er sagen, dass die Realität des kontingenten
Ereignisses gleich der Realität des Marktes sei.
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