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Reflexionen zur Klassentheorie

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(GS 8: 373–391)

Theodor W. Adorno

I

Geschichte ist, der Theorie zufolge, Geschichte von Klassenkämpfen.
Aber der Begriff der Klasse ist mit dem Auftreten des Proletariats
verbunden. Noch als revolutionäre nannte die Bourgeoisie sich den
dritten Stand. In der Ausdehnung des Klassenbegriffs auf die Vorzeit
denunziert die Theorie nicht bloß die Bürger, deren Freiheit mit Besitz
und Bildung die Tradition des alten Unrechts fortsetzt. Sie wendet sich
gegen die Vorzeit selber. Der Schein patriarchalischer Gutmütigkeit, den
jene seit dem Sieg des unerbittlichen kapitalistischen Kalküls
angenommen hat, wird zerstört. Die ehrwürdige Einheit des Gewordenen,
das natürliche Recht der Hierarchie in der als Organismus vorgestellten
Gesellschaft schon zeigt sich als Einheit von Interessenten. Die
Hierarchie war von je Zwangsorganisation zur Aneignung fremder Arbeit.
Das natürliche Recht ist verjährtes historisches Unrecht, der
gegliederte Organismus das System der Spaltung, das Bild der Stände die
Ideologie, die dem installierten Bürgertum in Gestalt von redlichem
Verdienst, treuer Arbeit, schließlich dem Äquivalententausch am besten
zustatten kam. Indem die Kritik der politischen Ökonomie die historische
Notwendigkeit aufweist, die den Kapitalismus zur Entfaltung brachte,
wird sie zur Kritik der ganzen Geschichte, von deren Unabänderlichkeit
die Kapitalistenklasse wie ihre Ahnherrn das Privileg herleitet. Das
jüngste Unrecht, das im gerechten Tausch selber gelegene, in seiner
verhängnisvollen Gewalt erkennen, heißt nichts anderes als mit der
Vorzeit es identifizieren, die von ihm vernichtet wird. Kulminiert in
der Moderne, im kalten Elend der freien Lohnarbeit alle Unterdrückung,
die Menschen je Menschen angetan haben, so offenbart sich der Ausdruck
des Historischen selber an Verhältnissen und Dingen – der romantische
Gegensatz zur industriellen Vernunft – als Spur von altem Leiden. Das
archaische Schweigen von Pyramiden und Ruinen wird im materialistischen
Gedanken seiner selbst inne: es ist das Echo vom Lärm der Fabrik in der
Landschaft des Unabänderlichen. Vom Höhlengleichnis der Platonischen
Politeia, der feierlichsten Symbolik der Lehre von den ewigen Ideen,
argwöhnt Jacob Burckhardt1, es sei nach dem Bilde der
grauenvollen athenischen Silberminen gestaltet. Dann wäre noch der
philosophische Gedanke ewiger Wahrheit in der Betrachtung gegenwärtiger
Qual entsprungen. Alle Geschichte heißt Geschichte von Klassenkämpfen,
weil es immer dasselbe war, Vorgeschichte.

II

Darin ist eine Anweisung gelegen, wie Geschichte zu erkennen sei. Von
der jüngsten Gestalt des Unrechts fällt Licht stets aufs Ganze. So nur
vermag die Theorie, die Schwere des historischen Daseins der Einsicht
ins Gegenwärtige zugute kommen zu lassen, ohne der Last resigniert
selber zu erliegen. Bürgerliche wie Anhänger haben am Marxismus dessen
Dynamik zu rühmen gewußt, in der sie jene beflissene Mimikry an die
Geschichte witterten, die ihrer eigenen Betriebsamkeit naheliegt. Die
marxistische Dialektik hat, der Würdigung Troeltschs im Historismusbuch
zufolge, »ihre konstruktive Kraft und ihre Einschmiegung in die
grundsätzliche Bewegtheit des Wirklichen bewahrt«2. Das Lob
der konstruktiven Einschmiegung weckt Mißtrauen gegen die grundsätzliche
Bewegtheit. Dynamik ist bloß der eine Aspekt von Dialektik: jener, den
der Glaube an den praktischen Geist, die beherrschende Tat, das
unermüdliche Machenkönnen am liebsten hervorhebt, weil die immerwährende Erneuerung das alte Unwahre am besten verbirgt. Der
andere, unbeliebtere Aspekt der Dialektik ist der statische. Die
Selbstbewegung des Begriffs, die Konzeption der Geschichte als
Syllogismus, wie Hegels Philosophie sie denkt, ist keine
Entwicklungslehre. Dazu hat sie bloß das einverstandene Mißverständnis
der Geisteswissenschaften gemacht. Der Zwang, unter dem sie die rastlos
zerstörende Entfaltung des immer Neuen begreift, besteht darin, daß in
jedem Augenblick das immer Neue zugleich das Alte aus der Nähe ist. Das
Neue fügt nicht dem Alten sich hinzu sondern bleibt die Not des Alten,
seine Bedürftigkeit, wie sie durch dessen denkende Bestimmung, seine
unabdingbare Konfrontation mit Allgemeinem im Alten selber als
immanenter Widerspruch aktuell wird. In allen antithetischen
Vermittlungen bleibt somit Geschichte ein unmäßiges analytisches Urteil.
Das ist die historische Essenz der metaphysischen Lehre von der
Identität von Subjekt und Objekt im Absoluten. Das System der
Geschichte, die Erhebung des Zeitlichen zur Totalität des Sinnes, hebt
als System Zeit auf und reduziert sie aufs abstrakt Negative. Dem ist
der Marxismus als Philosophie treu geblieben. Er bestätigt den
Hegelschen Idealismus als das Wissen der Vorgeschichte von der eigenen
Identität. Aber er stellt ihn auf die Füße, indem er die Identität als
vorgeschichtliche demaskiert. Das Identische wird ihm wahrhaft zur
Bedürftigkeit, der der Menschen, die der Begriff bloß ausspricht. Die
unversöhnliche Kraft des Negativen, die Geschichte in Bewegung setzt,
ist die dessen, was Ausbeuter den Opfern antun. Als Fessel von
Geschlecht zu Geschlecht verhindert sie wie die Freiheit so Geschichte
selber. Die systematische Einheit der Geschichte, die dem individuellen
Leiden Sinn geben oder erhaben zum Zufälligen es degradieren soll, ist
die philosophische Zueignung des Labyrinths, in dem die Menschen bis
heute gefront haben, der Inbegriff des Leidens. Im Bannkreis des Systems ist das Neue, der Fortschritt, Altem gleich als immer neues Unheil.
Das Neue erkennen bedeutet nicht ihm und der Bewegtheit sich
einschmiegen sondern ihrer Starrheit widerstehen, den Marsch der
welthistorischen Bataillone als Treten auf der Stelle erraten. Die
Theorie weiß von keiner »konstruktiven Kraft« denn der, mit dem
Widerschein des jüngsten Unheils die Konturen der ausgebrannten
Vorgeschichte zu erleuchten, um in ihr seiner Korrespondenz gewahr zu
werden. Das Neueste gerade, und es allein stets, ist der alte Schrecken,
der Mythos, der eben in jenem blinden Fortgang der Zeit besteht, der
sich in sich zurücknimmt, mit geduldiger, dumm allwissender Tücke, wie
der Esel das Seil des Oknos verzehrt. Nur wer das Neueste als Gleiches
erkennt, dient dem, was verschieden wäre.

III

Die jüngste Phase der Klassengesellschaft wird von den Monopolen
beherrscht; sie drängt zum Faschismus, der ihrer würdigen Form
politischer Organisation. Während sie die Lehre vom Klassenkampf mit Konzentration und Zentralisation vindiziert[i], äußerste Macht und äußerste Ohnmacht unvermittelt, in vollkommenem Widerspruch einander entgegenstellt, läßt
sie die Existenz der feindlichen Klassen in Vergessenheit geraten.
Solche Vergessenheit hilft den Monopolen mehr als die Ideologien, die
schon so dünn geworden sind, daß sie sich als Lügen bekennen, um denen,
die daran glauben müssen, die eigene Ohnmacht um so nachdrücklicher zu
demonstrieren. Die totale Organisation der Gesellschaft durchs big
business und seine allgegenwärtige Technik hat Welt und Vorstellung so
lückenlos besetzt, daß der Gedanke, es könnte überhaupt anders sein, zur
fast hoffnungslosen Anstrengung geworden ist. Das teuflische
Bild der Harmonie, die Unsichtbarkeit der Klassen in der Versteinerung
ihres Verhältnisses gewinnt darum nur jene reale Gewalt übers
Bewußtsein, weil die Vorstellung, es möchten die Unterdrückten, die
Proletarier aller Länder, als Klasse sich vereinen und dem Grauen das
Ende bereiten, angesichts der gegenwärtigen Verteilung von Ohnmacht und
Macht aussichtslos scheint. Die Nivellierung der Massengesellschaft,
die von kulturkonservativen und soziologischen Helfershelfern bejammert
wird, ist in Wahrheit nichts anderes als die verzweifelte
Sanktionierung der Differenz als der Identität, die die Massen, vollends
Gefangene des Systems, zu vollbringen trachten, indem sie die
verstümmelten Herrscher imitieren, um vielleicht von ihnen das
Gnadenbrot zu erhalten, wenn sie sich nur hinlänglich ausweisen. Der
Glaube, als organisierte Klasse überhaupt noch den Klassenkampf führen
zu können, zerfällt den Enteigneten mit den liberalen Illusionen, nicht
viel anders als die revolutionären Vereinigungen der Arbeiter einmal die
Stilisierung der Bourgeoisie zum Stand verlachen mochten. Der
Klassenkampf wird unter die Ideale verbannt und hat sich mit der
Toleranz und der Humanität zur Parole in den Reden gewerkschaftlicher
Präsidenten zu bescheiden. Die Zeiten, da man noch Barrikaden bauen
konnte, sind fast schon so selig wie die, da das Handwerk einen goldenen
Boden hatte. Die Allgewalt der Repression und ihre Unsichtbarkeit ist
dasselbe. Die klassenlose Gesellschaft der Autofahrer, Kinobesucher und
Volksgenossen verhöhnt nicht bloß die draußen sondern die eigenen
Mitglieder, die Beherrschten, die es weder anderen noch sich selber mehr
einzugestehen wagen, weil das bloße Wissen bereits mit qualvoller Angst
vorm Verlust der Existenz und des Lebens bestraft wird. So angewachsen ist die Spannung, daß zwischen den inkommensurablen[ii] Polen gar keine mehr besteht. Der
unermeßliche Druck der Herrschaft hat die Massen so dissoziiert, daß
noch die negative Einheit des Unterdrücktseins zerrissen wird, die im
neunzehnten Jahrhundert sie zur Klasse macht. Dafür werden sie
unmittelbar beschlagnahmt von der Einheit des Systems, das es ihnen
antut. Die Klassenherrschaft schickt sich an, die anonyme, objektive
Form der Klasse zu überleben.

IV

Das macht es notwendig, den Begriff Klasse selber so nah zu
betrachten, daß er festgehalten wird und verändert zugleich.
Festgehalten: weil sein Grund, die Teilung der Gesellschaft in Ausbeuter
und Ausgebeutete, nicht bloß ungemindert fortbesteht sondern an Zwang
und Festigkeit zunimmt. Verändert: weil die Unterdrückten, heute nach
der Voraussage der Theorie die übergroße Mehrheit der Menschen, sich selber nicht als Klasse erfahren können. Diejenigen
unter ihnen, welche den Namen reklamieren, meinen zumeist ihr
partikulares Interesse im Bestehenden, etwa so wie die industriellen
Spitzen den Begriff »Produktion« verwenden. Der Unterschied von
Ausbeutern und Ausgebeuteten tritt nicht so in Erscheinung, daß er den
Ausgebeuteten Solidarität als ihre ultima ratio vor Augen stellte:
Konformität ist ihnen rationaler. Die Zugehörigkeit zur gleichen Klasse setzt längst nicht in Gleichheit des Interesses und der Aktion sich um. Nicht
erst bei der Arbeiteraristokratie sondern im egalitären Charakter der
Bürgerklasse selber ist das widersprechende Moment des Klassenbegriffs
aufzusuchen, das verhängnisvoll heute hervortritt. Bedeutet die Kritik
der politischen Ökonomie die des Kapitalismus, so ist der Begriff der
Klasse, ihr Zentrum, selbst nach dem Modell der Bourgeoisie gebildet. Diese ist, als anonyme Einheit der Eigentümer von Produktionsmitteln und ihres Anhangs, die Klasse schlechthin.
Aber der egalitäre Charakter, der sie dazu macht, wird selbst von der
Kritik der politischen Ökonomie aufgelöst, nicht bloß im Verhältnis zum
Proletariat sondern auch als Bestimmung der Bourgeoisie als solcher. Die
freie Konkurrenz der Kapitalisten unter einander impliziert schon das
gleiche Unrecht, das sie vereint den Lohnarbeitern antun, die sie nicht
erst als ihnen tauschend Gegenübertretende exploitieren, vielmehr
zugleich durchs System produzieren. Gleiches Recht und gleiche Chance
der Konkurrierenden ist weithin fiktiv. Ihr Erfolg hängt ab von der –
außerhalb des Konkurrenzmechanismus gebildeten – Kapitalkraft, mit der
sie in die Konkurrenz eintreten, von der politischen und
gesellschaftlichen Macht, die sie repräsentieren, von altem und neuem
Conquistadorenraub, von der Affiliation mit dem feudalen Besitz, den die
Konkurrenzwirtschaft nie ernstlich liquidiert hat, vom Verhältnis zum
unmittelbaren Herrschaftsapparat des Militärs. Die
Interessengleichheit reduziert sich auf die Partizipation an der Beute
der Großen, die gewährt wird, wenn alle Eigentümer den Großen das
Prinzip souveränen Eigentums zugestehen, das jenen ihre Macht und deren
erweiterte Reproduktion garantiert: die Klasse als ganze muß zur
äußersten Hingabe ans Prinzip des Eigentums bereit sein, das sich real
vorab aufs Eigentum der Großen bezieht. Das bürgerliche
Klassenbewußtsein zielt auf den Schutz von oben, das Zugeständnis, das
die eigentlich herrschenden Eigentümer denen machen, die ihnen mit Leib
und Seele sich verschreiben. Die bürgerliche Toleranz will toleriert
werden. Sie meint nicht die Gerechtigkeit gegen die drunten, selbst die
in der eigenen Klasse nicht, welche die oben vermöge der »objektiven
Tendenz« verdammen, und das Gesetz des Äquivalententauschs und seiner
rechtlichen und politischen Reflexionsformen ist der Vertrag, der die
Beziehung zwischen dem Kern der Klasse und deren Mehrheit, den
bürgerlichen Lehensleuten, stillschweigend im Sinne von
Machtverhältnissen regelt. Mit anderen Worten, so real die Klasse ist,
so sehr ist sie selber schon Ideologie. Wenn die Theorie erweist, daß es
mit dem gerechten Tausch, der bürgerlichen Freiheit und Humanität
fragwürdig bestellt ist, so fällt Licht damit auf den Doppelcharakter
der Klasse. Er besteht darin, daß ihre formale Gleichheit die Funktion
sowohl der Unterdrückung der anderen Klasse hat wie die der Kontrolle
der eigenen durch die Stärksten. Sie wird von der Theorie als Einheit,
als Klasse gegen das Proletariat gebrandmarkt, um das Gesamtinteresse,
das sie vertritt, in seiner Partikularität bloßzustellen. Aber diese
partikulare Einheit ist notwendig Nichteinheit in sich selber. Die
egalitäre Form der Klasse dient als Instrument dem Privileg der
Herrschenden über den Anhang, das sie zugleich verdeckt. Die Kritik der
liberalen Gesellschaft kann vor dem Klassenbegriff nicht Halt machen,
der so wahr und unwahr ist wie das System des Liberalismus. Seine
Wahrheit ist die kritische: er designiert die Einheit, in der sich die
Partikularität des bürgerlichen Interesses verwirklicht. Seine
Unwahrheit liegt in der Nichteinheit der Klasse. Ihre immanente
Bestimmung durch Herrschaftsverhältnisse ist der Tribut, den sie an die
eigene Partikularität zu entrichten hat, der ihrer Einheit zugute kommt.
Vor ihrer realen Nichteinheit wird noch die ebenso reale Einheit zum Schleier.

V

In der Marktwirtschaft war die Unwahrheit am Klassenbegriff
latent: unterm Monopol ist sie so sichtbar geworden wie seine Wahrheit,
das Überleben der Klassen, unsichtbar. Mit der Konkurrenz und ihrem
Kampf ist auch soviel von der Einheit der Klasse verschwunden, wie als
Spielregel des Kampfes, als Gemeininteresse die Konkurrenten
zusammenhielt. Es wird der Bourgeoisie so leicht, dem Proletariat
gegenüber ihren Klassencharakter zu verleugnen, weil in der Tat ihre
Organisation die Form des Consensus der Interessengleichen abwirft, die
im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert als Klasse sie konstituiert
hatte, und durch unvermittelte ökonomische und politische Befehlsgewalt
der Großen ersetzt, die auf dem Anhang und den Arbeitern mit der
gleichen Polizeidrohung lastet, ihnen gleiche Funktion und gleiches
Bedürfnis aufzwingt und damit den Arbeitern es nahezu unmöglich macht,
das Klassenverhältnis zu durchschauen. Die Prognose der Theorie
von den wenigen Eigentümern und der überwältigenden Masse der
Besitzlosen ist erfüllt, aber anstatt daß damit das Wesen der
Klassengesellschaft eklatant geworden wäre, wird es von der
Massengesellschaft verzaubert, in der die Klassengesellschaft sich
vollendet. Die herrschende Klasse verschwindet hinter der Konzentration
des Kapitals. Diese hat eine Größe erreicht, ein Eigengewicht
gewonnen, durch die das Kapital als Institution, als Ausdruck der
Gesamtgesellschaft sich darstellt. Das Partikulare usurpiert vermöge der
Allmacht seiner Durchsetzung das Ganze: im gesellschaftlich-totalen
Aspekt des Kapitals terminiert der alte Fetischcharakter der Ware, der
Beziehungen von Menschen als solche von Sachen zurückspiegelt. Zu solchen Sachen ist heute die ganze Ordnung des Daseins geworden. In
ihr wird dem Proletariat mit dem freien Markt, der für die Arbeiter
immer schon Lüge war, die Möglichkeit zur Klassenbildung objektiv
versperrt und schließlich durch den bewußten Willen der Herrschenden im
Namen des großen Ganzen, das sie selber sind, durch Maßnahmen
verhindert. Die Proletarier aber müssen, wenn sie leben wollen, sich
angleichen. Allenthalben drängt Selbsterhaltung übers Kollektiv zur
verschworenen Clique. Zwangshaft reproduziert unten sich die Spaltung in
Führer und Gefolge, die an der herrschenden Klasse selber sich
vollzieht. Die Gewerkschaften werden zu Monopolen und die Funktionäre zu
Banditen, die von den Zugelassenen blinden Gehorsam verlangen, die
draußen terrorisieren, loyal jedoch bereit wären, den Raub mit den
anderen Monopolherren zu teilen, wenn diese nur nicht vorher in offenem
Faschismus die ganze Organisation in eigene Regie nehmen. Der
Gang der Handlung macht der liberalen Episode ein Ende; die Dynamik von
gestern bekennt sich als die erstarrte Vorzeit von heute, die anonyme
Klasse als die Diktatur der selbsternannten Elite. Noch die politische Ökonomie, deren Konzeption die Theorie der liberalen grimmig vorgab, zergeht als vergänglich. Ökonomie ist ein Sonderfall der Ökonomie, des für Herrschaft präparierten Mangels. Nicht
haben die Tauschgesetze zur jüngsten Herrschaft als der historisch
adäquaten Form der Reproduktion der Gesamtgesellschaft auf der
gegenwärtigen Stufe geführt, sondern die alte Herrschaft war in die
ökonomische Apparatur zuzeiten eingegangen, um sie, einmal in voller
Verfügung darüber, zu zerschlagen und sich das Leben zu erleichtern. In
solcher Abschaffung der Klassen kommt die Klassenherrschaft zu sich
selber. Die Geschichte ist, nach dem Bilde der letzten ökonomischen
Phase, die Geschichte von Monopolen. Nach dem Bilde der
manifesten Usurpation, die von den einträchtigen Führern von Kapital und
Arbeit heute verübt wird, ist sie die Geschichte von Bandenkämpfen,
Gangs und Rackets.

VI

Marx ist über der Ausführung der Klassentheorie gestorben, und die
Arbeiterbewegung hat sie auf sich beruhen lassen. Sie war nicht nur das
wirksamste Agitationsmittel sondern reichte im Zeitalter der
bürgerlichen Demokratie, der proletarischen Massenpartei und der
Streiks, vorm offenen Sieg des Monopols und vor der Entfaltung der
Arbeitslosigkeit zur zweiten Natur, an den Konflikt heran. Nur die
Reformisten haben sich auf die Klassenfrage diskutierend eingelassen, um
mit der Leugnung des Kampfes, der statistischen Würdigung der
Mittelschichten und dem Lob des umspannenden Fortschritts den
beginnenden Verrat zu bemänteln. Die verlogene Leugnung der Klassen
bewog die verantwortlichen Träger der Theorie, den Klassenbegriff selber
als Lehrstück zu hüten, ohne ihn weiterzutreiben. Damit hat die Theorie
sich Blößen gegeben, die Mitschuld tragen am Verderb der Praxis. Die
bürgerliche Soziologie aller Länder hat sie sich weidlich zunutze
gemacht. War sie insgesamt durch Marx wie durch eine Magnetnadel
abgelenkt und apologetisch geworden, je mehr sie sich auf die
Wertfreiheit versteifte, so konnte ihr Positivismus, die wahre
Einschmiegung ins Faktische, dort den Lohn ihrer Mühen einkassieren, wo
verkümmerten Theorie Unrecht gaben, die als Glaubensartikel selber auf
die Aussage über Faktisches heruntergekommen war. Der Nominalismus der
Forschung, der das Wesentliche, das Klassenverhältnis als Idealtyp in
die Methodologie verbannte und die Realität jenem Einmaligen überließ,
das sie bloß garniert, fand sich mit Analysen zusammen, die die Klasse –
etwa in ihrem spezifischen politischen Äquivalent, der Partei – jener
oligarchischen Züge überführten, welche die Theorie vernachlässigte oder
als Anhang »Monopolkapitalismus« verdrossen berücksichtigte. Je
gründlicher man dabei die Fakten vom konkreten Begriff, ihrer Beziehung
auf den aktuellen Stand des Ausbeutungssystems, reinigte, die allem
Faktischen bestimmend innewohnt, um so besser paßten sie in den
abstrakten Begriff, die alle Epochen umfassende Merkmaleinheit hinein,
die als von den Fakten bloß abgezogene über diese nichts mehr vermag.
Oligarchie, Ideologie, Integration, Arbeitsteilung werden aus Momenten
der Herrschaftsgeschichte, deren dunklen Wald man vor den grünen Bäumen
des eigenen Lebens nicht mehr sieht, zu generellen Kategorien der
Vergesellschaftung der Menschen. Die Skepsis gegen die angebliche
Klassenmetaphysik wird normativ im Zeichen der formalen Soziologie:
Klassen gibt es nicht wegen der unbeugsamen Tatsachen; deren
Unbeugsamkeit aber substituiert die Klasse, und da der soziologische
Blick, wo er die Steine der Klassen sucht, immer nur das Brot der Eliten
findet und tagtäglich erfährt, daß es ohne Ideologie schlechterdings
nicht abgeht, so ist es schon das gescheiteste, bei den Formen der
Vergesellschaftung es zu belassen und womöglich blutenden Herzens die
Sache der unvermeidlichen Elite zur eigenen Ideologie zu machen. Gegen
das phantasma bene fundatum sich auf Gegenbeispiele berufen, den
oligarchischen Charakter der Massenpartei abstreiten, verkennen, daß die
Theorie im Munde ihrer Funktionäre wirklich zur Ideologie geworden ist,
wäre pure Ohnmacht und trüge bloß den Geist der Apologetik in die
Theorie, gegen welche die bürgerlichen Apologeten ihr Netz gesponnen
haben. Nichts hilft als die Wahrheit aus den soziologischen Begriffen
gegen die Unwahrheit wenden, die sie produzierte. Was die Soziologie
gegen die Realität der Klassen vorbringt, ist nichts anderes als das
Prinzip der Klassengesellschaft: die Allgemeinheit der
Vergesellschaftung ist die Form, unter der Herrschaft historisch sich
durchsetzt. Die abstrakte Einheit selber, in deren Herstellung aus
blinden Fakten die Soziologie ihr Trugbild des Klassenlosen vollendet
meint, ist die Disqualifizierung der Menschen zu Objekten, die von
Herrschaft bewirkt wird und heute auch die Klassen ergriffen hat. Die
soziologische Neutralität wiederholt die soziale Gewalttat, und die
blinden Fakten, hinter die sie sich verschanzt, sind die Trümmer, in
welche die Welt von der Ordnung geschlagen ward, mit der die Soziologen
sich vertragen. Die generellen Gesetze besagen nichts gegen die
gesetzlose Zukunft, weil ihre Allgemeinheit selber die logische Form der
Repression ist, die abgeschafft werden muß, damit die Menschheit nicht
in die Barbarei zurückfällt, aus der sie noch gar nicht herauskam. Daß
Demokratie Oligarchie ist, liegt nicht an den Menschen, die nach
Ansicht und Interesse ihrer reifen Führer zur Demokratie nicht reif sein
sollen, sondern an der Unmenschlichkeit, die das Privileg in die
objektive Notwendigkeit der Geschichte eingräbt. Indem aus der Dialektik
der Klasse am Ende die nackte Cliquenherrschaft sich erhebt, wird die
Soziologie erledigt, die das immer schon gemeint hat. Ihre formalen
Invarianten erweisen sich als Voraussagen über jüngste materiale
Tendenzen. Die Theorie, die an der Lage heute lernt, die Banden in den
Klassen zu identifizieren, ist die Parodie auf die formale Soziologie,
welche die Klassen leugnet, um die Banden zu verewigen.

VII

Die Stelle der marxistischen Klassenlehre, die der apologetischen
Kritik am offensten sich darbietet, scheint die Verelendungstheorie. Das
gemeinsame Elend macht die Proletarier zur Klasse. Es folgt als
Konsequenz aus ihrer Stellung im Produktionsprozeß der kapitalistischen
Wirtschaft und wächst mit dem Prozeß ins Unerträgliche an. So wird Elend
selber zur Kraft der Revolution, die das Elend überwinden soll. Die
Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten und alles zu
gewinnen: die Wahl soll ihnen nicht schwer werden, und die bürgerliche
Demokratie ist soweit progressiv wie sie den Spielraum zur
Klassenorganisation gewährt, deren numerisches Gewicht den Umsturz
herbeiführt. Dagegen läßt sich alle Statistik ins Feld führen. Die
Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten. Ihr Lebensstandard
hat sich gegen die englischen Zustände vor hundert Jahren, wie sie den
Autoren des Manifests vor Augen standen, nicht verschlechtert sondern
verbessert. Kürzere Arbeitszeit, bessere Nahrung, Wohnung und Kleidung,
Schutz der Familienangehörigen und des eigenen Alters, durchschnittlich
höhere Lebensdauer sind mit der Entwicklung der technischen
Produktivkräfte den Arbeitern zugefallen. Keine Rede kann davon sein,
daß Hunger sie zum bedingungslosen Zusammenschluß und zur Revolution
nötigte. Dafür ist die Möglichkeit von Zusammenschluß und
Massenrevolution selber fragwürdig geworden. Der Einzelne gedeiht besser
in der Interessenorganisation als in der gegens Interesse, die
Konzentration technisch-militärischer Machtmittel auf der
Unternehmerseite ist so formidabel, daß sie die Erhebung alten Stils
vorweg ins allgemein tolerierte Bereich heroischer Erinnerung verweist,
und daß die bürgerliche Demokratie dort, wo ihre Fassade noch
existiert, die Bildung einer Massenpartei zuließe, die an die Revolution
denkt, von der sie redet, ist ganz unwahrscheinlich. So zerfällt
die überlieferte Konstruktion von der Verelendung. Sie mit dem
Hilfsbegriff der relativen Verelendung zu flicken, wie man es zur Zeit
des Revisionismusstreits versuchte, konnte nur sozialdemokratischen
Gegenapologeten beikommen, deren Ohren vom eigenen Geschrei schon so
stumpf geworden waren, daß sie nicht einmal den Hohn mehr vernahmen, der
aus dem Ausdruck relative Verelendung ihrer Mühe entgegenschallt.
Notwendig ist die Erwägung des Begriffs Verelendung selbst, nicht die
sophistische Modifikation seines Geltungsbereichs. Er ist aber ein
strikt ökonomischer Begriff, definiert durch das absolute
Akkumulationsgesetz. Reservearmee, Übervölkerung, Pauperismus wachsen
proportional mit dem »funktionierenden Kapital«3 und drücken
zugleich den Arbeitslohn herab. Die Verelendung ist die Negativität des
freien Spiels der Kräfte im liberalen System, dessen Begriff die
Marxische Analyse ad absurdum führt: mit dem gesellschaftlichen Reichtum
nimmt unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen vermöge des
immanenten Systemzwangs die gesellschaftliche Armut zu. Vorausgesetzt
ist der ungestörte, autonome Ablauf des Wirtschaftsmechanismus, wie die
liberale Theorie ihn postuliert: die Geschlossenheit des je zu
analysierenden tableau économique. Alles andere wird den modifizierenden
»Umständen« zugezählt, »deren Analyse nicht hierher gehört«4. Damit
aber zeigt sich die Verelendungstheorie selber als abhängig vom
Doppelcharakter der Klasse, der Differenz vermittelter und unmittelbarer
Repression, die ihr Begriff enthält. Es gibt soweit Verelendung, wie
die bürgerliche Klasse wirklich anonyme und bewußtlose Klasse ist, wie
sie und das Proletariat vom System beherrscht werden. Im Sinne der rein
ökonomischen Notwendigkeit vollzieht die Verelendung sich absolut: wäre
der Liberalismus wirklich der Liberalismus, als den Marx ihn beim Wort
nimmt, so bestünde schon in der friedlichen Welt der Pauperismus, der
heute in den kriegerisch unterjochten Ländern offenbar wird. Aber die
herrschende Klasse wird nicht nur vom System beherrscht, sie herrscht
durchs System und beherrscht es schließlich selber. Die modifizierenden
Umstände stehen extraterritorial zum System der politischen Ökonomie,
aber zentral in der Geschichte der Herrschaft. Im Prozeß der
Liquidation der Ökonomie sind sie keine Modifikationen sondern selber
das Wesen. Soweit betreffen sie die Verelendung: sie darf nicht in
Erscheinung treten, um nicht das System zu sprengen. In seiner
Blindheit ist das System dynamisch und akkumuliert das Elend, aber die
Selbsterhaltung, die es durch solche Dynamik leistet, terminiert auch
dem Elend gegenüber in jener Statik, die von je den Orgelpunkt der
vorgeschichtlichen Dynamik abgibt. Je weniger die Aneignung fremder
Arbeit unterm Monopol mehr durch die Marktgesetze sich vollzieht, um so
weniger auch die Reproduktion der Gesamtgesellschaft. Die
Verelendungstheorie impliziert unmittelbar Marktkategorien in Gestalt
der Konkurrenz der Arbeiter, durch die der Preis der Ware Arbeitskraft
fällt, während diese Konkurrenz mit allem was sie bedeutet so fraglich
geworden ist wie die der Kapitalisten. Die Dynamik des Elends wird
mit der der Akkumulation stillgelegt. Die Verbesserung der ökonomischen
Lage drunten oder deren Stabilisierung ist außerökonomisch: der höhere
Standard wird aus Einkommen oder Monopolprofiten bezahlt, nicht aus
Vernunft. Er ist Arbeitslosenunterstützung auch wo diese nicht
deklariert ist, ja wo der Schein von Arbeit und Lohn dicht fortbesteht:
Zugabe, Trinkgeld im Sinne der Herrschenden. Guter Wille und Psychologie
haben nichts damit zu tun. Die ratio solchen Fortschritts ist das
Selbstbewußtsein des Systems von den Bedingungen seiner Perpetuierung,
nicht jedoch die bewußtlose Mathematik der Schemata. Die Prognose von
Marx ist auf ungeahnte Weise verifiziert: die herrschende Klasse wird so
gründlich von fremder Arbeit ernährt, daß sie ihr Schicksal, die
Arbeiter ernähren zu müssen, entschlossen zur eigenen Sache macht und
dem »Sklaven die Existenz innerhalb seiner Sklaverei« sichert, um die
eigene zu befestigen. Im Anfang mochte der Druck der Massen, die
potentielle Revolution die Umkehr bewirken. Später, mit der Verstärkung
der Macht der monopolistischen Zentralstellen, wird man die Lage der
arbeitenden Klassen mehr stets mit der Aussicht auf Vorteile jenseits
der eigenen geschlossen definierten Wirtschaftssysteme – nicht
unmittelbar durch Kolonialprofite – verbessert haben. Die endgültige
Etablierung der Macht ist in alle Posten des Kalküls eingerechnet. Der
Schauplatz des kryptogamen, gleichsam zensurierten Elends aber ist die
politische und gesellschaftliche Ohnmacht. Sie macht alle Menschen
derart zu bloßen Verwaltungsobjekten der Monopole und ihrer Staaten, wie
es zur Zeit des Liberalismus nur jene paupers waren, die man in der
Hochzivilisation hat aussterben lassen. Diese Ohnmacht er-laubt die
Führung des Krieges in allen Ländern. Wie er die faux frais der
Machtapparatur nachträglich als profitbringende Investition bestätigt,
so löst er den Kredit des Elends ein, das die herrschenden Cliquen klug
vertagten, während ihre Klugheit doch am Elend die unverrückbare Grenze
hat. Nur ihr Sturz, nicht die wie immer verschleierte Manipulation wird
das Elend stürzen.

VIII

»Was fällt, das sollt ihr stoßen.« Der Satz Nietzsches spricht als
Maxime ein Prinzip aus, das die reale Praxis der Klassengesellschaft
definiert. Maxime wird es bloß gegen die Ideologie der Liebe in der Welt
von Haß: Nietzsche gehört der Tradition jener bürgerlichen Denker seit
der Renaissance an, die aus Empörung über die Unwahrheit der
Gesellschaft zynisch deren Wahrheit als Ideal gegen das Ideal
ausgespielt und mit der kritischen Gewalt der Konfrontation jener
anderen Wahrheit geholfen haben, die sie am grimmigsten als die
Unwahrheit verhöhnen, in die sie von der Vorgeschichte verzaubert ist.
Die Maxime sagt aber mehr als die These vom bellum omnium contra omnes,
die am Beginn des Zeitalters der freien Konkurrenz steht. Das Bündnis
von Fall und Stoß ist eine Chiffre für den altehrwürdigen
Doppelcharakter der Klasse, der heute erst manifest wird. Die objektive
Tendenz des Systems wird immer vom bewußten Willen derer verdoppelt,
gestempelt, legitimiert, die darüber verfügen. Denn das blinde System
ist die Herrschaft; darum kommt es den Herrschenden stets zugute, auch
wo es sie anscheinend bedroht, und die Geburtshelferdienste der
Herrschenden bezeugen das Wissen darum und stellen den Sinn des Systems
wieder her, wenn er von der Objektivität des geschichtlichen Vollzugs,
seiner sich selbst entfremdeten Gestalt, verhüllt wird. Es gibt eine
Tradition freier bürgerlicher Tathandlungen von der Pulververschwörung –
vielleicht vom athenischen Hermensturz – bis zum Reichtagsbrand, und
Intrigen wie die Bestechung der Hindenburgs und die Begegnung beim
Bankier Schroeder, auf die der Kenner der objektiven Tendenz
desinteressiert herunterblickt als auf die Zufälle, die der Weltungeist
benutzt, um sich durch sie hindurch zu realisieren, sind gar nicht so
zufällig: es sind Akte der Freiheit, die bezeugen, daß die objektive
historische Tendenz soweit Täuschung ist, wie sie nicht ohne weiteres
mit den subjektiven Interessen derer harmoniert, die durch Geschichte
der Geschichte befehlen. Die Vernunft ist noch viel listiger, als Hegel
ihr attestieren mochte. Ihr Geheimnis ist weniger das der Leidenschaften
als das von Freiheit selber. Diese ist in der Vorgeschichte die
Verfügung der Cliquen über die Anonymität des Unheils, das Schicksal
heißt. Sie werden vom Schein des Wesens überwältigt, das sie selber ins
Spiel gebracht haben, und darum nur scheinbar überwältigt. Geschichte
ist Fortschritt im Bewußtsein ihrer eigenen Freiheit durch die
historische Objektivität hindurch und diese Freiheit nichts als das
Reversbild der Unfreiheit der anderen. Das ist die wahre
Wechselwirkung der Geschichte und der Banden, die »innere Identität, …
worin … die Nothwendigkeit zur Freiheit erhoben ist«5.
Der Idealismus, dem man zu Recht die Verklärung der Welt vorwirft, ist
zugleich die furchtbarste Wahrheit über die Welt: noch in den Momenten
seiner Positivität, der Lehre von der Freiheit, enthält er durchsichtig
das Deckbild ihres Gegenteils, und wo er den Menschen als entronnenen
bestimmt, dort gerade sind in der Vorgeschichte die Menschen dem
Verhängnis am vollkommensten verfallen. Zwar nicht im preußischen
Staat aber im Charisma des Führers kommt die Freiheit als Wiederholung
der Notwendigkeit zu sich selber. Wenn die Massen der Rede von der
Freiheit nur ungern mehr lauschen, so ist das nicht bloß ihre Schuld
oder die des Mißbrauchs, der mit dem Namen getrieben wird. Sie ahnen,
daß die Welt des Zwanges gerade immer die von Freiheit, Verfügung,
Setzung war und der Freie der, welcher sich etwas herausnehmen darf. Was
anders wäre ist namenlos und was etwa heute dafür einsteht,
Solidarität, Zartheit, Rücksicht, Bedacht, hat mit der Freiheit der
gegenwärtig Freien nur geringe Ähnlichkeit.

IX

Die gesellschaftliche Ohnmacht des Proletariats, in der die
auseinanderweisenden Tendenzen ökonomischer Verelendung und
extra-ökonomischer Besserung des Lebensstandards resultieren, ist als
solche von der Theorie nicht vorausgesagt worden. Der überwiegenden
Einsicht in die erste Tendenz entspricht jene Erwartung, daß der Druck
der Armut unmittelbar zur Kraft gegen die Unterdrücker wird. Aber der
Gedanke an die Ohnmacht ist doch der Theorie nicht fremd. Er erscheint
unter dem Namen der Entmenschlichung. Wie die Industrie ihre Opfer an
physisch Verstümmelten, Erkrankten, Deformierten fordert, droht sie das
Bewußtsein zu deformieren. Der Brutalisierung der Arbeiter, die
zwangshaft was ihnen angetan ward den von ihnen Abhängigen nochmals
antun, und ihrer wachsenden Entfremdung vom mechanisierten
Arbeitsprozeß, den sie nicht mehr verstehen können, geschieht
ausdrücklich Erwähnung. Die Frage, wie die so Bestimmten zur Aktion
fähig sein sollen, welche doch nicht bloß Klugheit, Überblick und
Geistesgegenwart, sondern die Fähigkeit zur äußersten Selbstaufopferung
verlangt, wird nicht erhoben. Die Gefahr des Psychologismus – der Autor[iii] einer »Psychologie des Sozialismus« ist nicht zufällig am Ende Faschist
geworden wie der Soziologe des Parteiwesens – ist im Ursprung
abgewandt, längst ehe die bürgerliche Philosophie verbissen sich daran
machte, ihre Objektivität in der Erkenntnissphäre zu verteidigen. Marx
hat sich auf die Psychologie der Arbeiterklasse nicht eingelassen. Sie
setzt Individualität, eine Art Autarkie der Motivationszusammenhänge im
Einzelnen voraus. Solche Individualität ist selber ein gesellschaftlich
produzierter Begriff, der unter die Kritik der politischen Ökonomie
fällt. Schon unter den konkurrierenden Bürgern ist das Individuum
weithin Ideologie, und denen drunten wird Individualität versagt durch
die Ordnung des Eigentums. Nichts anderes kann Entmenschlichung heißen.
Die Gegenüberstellung mit dem Proletariat desavouiert den bürgerlichen
Begriff des Menschen so wie die Begriffe der bürgerlichen Ökonomie. Er
wird festgehalten bloß, um in seinem eigenen Widerspruch exponiert zu
werden, nicht aber von einer marxistischen »Anthropologie« bestätigt. Mit
der Autonomie der Marktwirtschaft und der an ihr gebildeten
bürgerlichen Individualität ist auch ihr Gegenteil, die blutige
Entmenschlichung des von der Gesellschaft Verstoßenen, vergangen. Die
Figur des Arbeiters, der in der Nacht betrunken nach Hause kommt und die
Familie verprügelt, ist an den äußersten Rand gedrängt: seine Frau hat
mehr als ihn den social worker zu fürchten, der sie berät. Von einer
Verdummung des Proletariers, der den eigenen Arbeitsprozeß nicht mehr
begriffe, kann gar keine Rede sein. Die höchstgesteigerte Arbeitsteilung
hat zwar den Arbeiter dem zusammengesetzten Endprodukt, wie es dem
Handwerker vertraut war, immer ferner gerückt, zugleich aber die
einzelnen Arbeitsvorgänge in ihrer Disqualifikation einander immer mehr
angenähert, so daß, wer eines kann, virtuell alles kann und das Ganze
versteht. Der Mann am laufenden Band bei Ford, der immer denselben
Handgriff machen muß, weiß doch mit dem fertigen Wagen sehr wohl
Bescheid, der kein Geheimnis enthält, das nicht nach dem Muster jenes
Handgriffs vorzustellen wäre. Selbst der Unterschied zwischen dem
Arbeiter und dem Ingenieur, dessen Arbeit selber mechanisiert ist,
dürfte nachgerade aufs bloße Privileg hinauslaufen; unterm Bedarf des
Krieges an technischen Spezialisten zeigt sich, wie flexibel die
Differenzen, wie wenig die Spezialisten mehr welche sind. An der
Ohnmacht aber ändert das zunächst so wenig wie zuvor das nackte Elend in
die Revolution umschlug. Die hellen Mechaniker von heute sind so
wenig Individuen geworden wie die dumpfen Insassen der working houses
vor hundert Jahren es waren, und freilich ist unwahrscheinlich, daß ihre
Individualität die Revolution beschleunigte. Der Arbeitsprozeß
indessen, den sie verstehen, modelt sie noch gründlicher als der
unverstandene von dazumal: er wird zum »technologischen Schleier«. Am Doppelcharakter der Klasse haben sie ihren Anteil. Hat
das System der Entmenschlichung Einhalt geboten, die die Herrschenden
gefährdet, bis diese sie für die eigene Unmenschlichkeit einspannen, so
ist dafür die Einsicht von Marx, daß das System das Proletariat
produziere, zu einem Maße eingelöst worden, das schlechterdings nicht
abzusehen war. Die Menschen sind, vermöge ihrer Bedürfnisse und
der allgegenwärtigen Anforderungen des Systems, wahrhaft zu dessen
Produkten geworden: als ihre eigene erfassende Verdinglichung, nicht als
unerfaßte Roheit vollendet unterm Monopol die Entmenschlichung sich an
den Zivilisierten, ja sie fällt mit ihrer Zivilisation zusammen. Die
Totalität der Gesellschaft bewährt sich daran, daß sie ihre Mitglieder
nicht nur mit Haut und Haaren beschlagnahmt, sondern nach ihrem Ebenbild
erschafft. Darauf ist es in letzter Instanz mit der Polarisation der
Spannung in Macht und Ohnmacht abgesehen. Nur denen die wie es sind
zahlt das Monopol die Zuwendungen, auf denen heute die Stabilität der
Gesellschaft beruht. Dies sich Gleichmachen, Zivilisieren, Einfügen
verbraucht all die Energie, die es anders machen könnte, bis aus der
bedingten Allmenschlichkeit die Barbarei hervortritt, die sie ist.
Indem die Herrschenden planvoll das Leben der Gesellschaft
reproduzieren, reproduzieren sie eben dadurch die Ohnmacht der
Geplanten. Herrschaft wandert in die Menschen ein. Sie müssen nicht, wie
Liberale kraft ihrer Marktvorstellungen zu denken geneigt sind,
»beeinflußt« werden. Die Massenkultur macht sie bloß immer nochmals so,
wie sie unterm Systemzwang ohnehin schon sind, kontrolliert die Lücken,
fügt noch den offiziellen Widerpart der Praxis als public moral dieser
ein, stellt ihnen Modelle zur Imitation bereit. Einfluß auf
Andersgeartete ist den Filmen nicht zuzutrauen, denen schon die
Gleichgearteten nicht ganz glauben: mit den Resten der Autonomie
vergehen auch die der Ideologien, die zwischen Autonomie und Herrschaft
vermittelten. Entmenschlichung ist keine Macht von außen, keine wie
immer geartete Propaganda, kein Ausgeschlossensein von Kultur. Sie ist
gerade die Immanenz der Unterdrückten im System, die einmal wenigstens
durch Elend herausfielen, während heute ihr Elend ist, daß sie nicht
mehr herauskönnen, daß ihnen die Wahrheit als Propaganda verdächtig ist,
während sie die Propagandakultur annehmen, die fetischisiert in den
Wahnsinn der unendlichen Spiegelung ihrer selbst sich verkehrt. Damit
aber ist die Entmenschlichung zugleich ihr Gegenteil. An den
verdinglichten Menschen hat Verdinglichung ihre Grenze. Sie holen die
technischen Produktivkräfte ein, in denen die Produktionsverhältnisse
sich verstecken: so verlieren diese durch die Totalität der Entfremdung
den Schrecken ihrer Fremdheit und bald vielleicht auch ihre Macht. Erst wenn die Opfer die Züge der herrschenden Zivilisation ganz annehmen, sind sie fähig, diese der Herrschaft zu entreißen. Was
an Differenz übrig ist, reduziert sich auf die nackte Usurpation. Nur
in ihrer blinden Anonymität erschien die Ökonomie als Schicksal: durchs
Entsetzen der sehenden Diktatur wird ihr Bann gebrochen. Die
Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose ist so
gelungen, daß zwar die Unterdrückten aufgesaugt sind, alle Unterdrückung
aber manifest überflüssig geworden ist. Ganz schwach ist der alte
Mythos in seiner jüngsten Allmacht. War die Dynamik immer das Gleiche, so ist ihr Ende heute nicht das Ende.

Fußnoten

1 Cf. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, 4. Aufl., Stuttgart 1908, S. 164, Anm. 5.

2 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922, S. 315.

3 Cf. Marx, Kapital I, ed. Adoratskij, S. 679f.

4 ibid. 5 Hegel, Sämtliche Werke, ed. Glockner, Bd. 4: Wissenschaft der Logik, 1. Teil, Stuttgart 1928, S. 719.

[i] von lateinisch vindicare → la „als Eigentum beanspruchen, Anspruch erheben“

[ii]
Inkommensurabilität (Gegensatz: Kommensurabilität, adj.
(in)kommensurabel; von lat. mensura für Maß, wörtlich etwa „nicht
zusammen messbar“, „ohne gemeinsames Maß“)

[iii] Hendrik de Man (französisch Henri de Man; * 17. November 1885 in Antwerpen; † 20. Juni 1953 nahe Murten) war ein belgischer Sozialpsychologe, Theoretiker des Sozialismus und Politiker.

taken from here

Der Beitrag Reflexionen zur Klassentheorie erschien zuerst auf non.copyriot.com.


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