Sebastian Lotzer
Die schönste Jugend ist gefangen
Nach Begrabt mein Herz am Heinrichplatz widmet sich Sebastian Lotzers neuer Roman den Bemühungen um einen bewaffneten, antagonistischen Ansatz von Gegenmacht. Dem Scheitern und den Widersprüchen, der Nähe und zugleich vertrauten Ferne von Teilen der Bewegung zu diesen Bemühungen. Bewusst beschränkt sich der Stoff auf fragmentarische Annäherungen und subjektive Eindrücke. Auch der ehemals internationalistischen Ausrichtung radikaler Theorie und Praxis wird Raum und Zuwendung eingeräumt, Lotzer verweigert sich einem Lagerdenken und unkritischer Affirmation. Die innere Zerrissenheit der Geschichte schreibenden Subjekte wird ebenso verteidigt, wie ihr Recht Fehler zu begehen. Als sei dies noch nicht genug, versucht sich Lotzers Erzählung auch in einer Annäherung an jene Wellen der Aufstände, die Anfang des Jahrzehnts Nordafrika und den Nahen Osten durchzogen und bis nach Spanien, Griechenland, den USA und darüber hinaus ausstrahlten.
Und nicht zuletzt wird debattiert, gekämpft, geliebt und gelitten. Werden Anstrengungen unternommen, das Leben anders als unterworfen zu gestalten.
13 • 21 cm | Klappenbroschur
200 Seiten | € 14,00
ISBN 978-3-903290-03-7
Erscheint im März 2019 im bahoe books
Leseprobe:
Eins. Paul kannte das Gesicht nicht
mehr. Seit langem hatte er kein Fahndungsplakat mehr gesehen, sie
waren in den letzten Jahren rarer geworden. Und wenn er eines gesehen
hätte, hätten ihm die Gesichter auch nichts mehr gesagt. Fremd
waren ihm die abgebildeten, gejagten Genossen und Genossinnen
geworden. So fremd wie ihre Politik.
Er erinnerte sich an den letzten großen Hungerstreik 1989, kurz vor dem, was später «Die Wende» genannt wurde. zusammenlegung in interaktionsfähige gruppen, keine eskalation zischte es durch alle informellen Kanäle: Richtungsänderung, neue politische Linie, kommentarlos geschluckt von denen, die immer alles nachplapperten, sich sonnten im Glanz der Nähe zu den illegalen. Die, die denen, die nun ihre Körper als Waffen einsetzten, am nächsten standen, oder sollte man besser sagen, stehen sollten, hüllten sich in Schweigen. Von der Kommandoebene keine Stellungnahme, keine Aktion, nichts. Woche für Woche warten.
Die Meldungen machten Angst und Sorge,
um Jene, mit denen Paul keine politische Übereinstimmung mehr
verband, aber eine Nähe, die sich aus etwas speiste, für das er
keinen Namen fand. Als es so aussah, als wenn es jeden Tag den ersten
Toten geben könnte, hatte er es nicht mehr ausgehalten. Scheiß auf
die ausgegebene politische Linie, die neue gesellschaftliche breite,
die lahmen Besetzungsaktionen. Sie waren zu zweit losgezogen, mussten
improvisieren, ein Ziel ohne wirkliche Relevanz, aber sie konnten
einfach nicht mehr Zuhause sitzen und abwarten.
Zwei Tage zuvor war eine Gruppe von
Leuten am helllichten Tag in die Frankfurter Börse eingedrungen und
hatte Molotowcocktails auf die zentrale Rechneranlage geworfen.
Irgendwie war ihnen noch die halsbrecherische Flucht aus dem Gebäude
6 7 gelungen, aber die Polizei nahm wenig später drei von ihnen in
der Innenstadt fest.
Paul und Gerd hatten etliche Essentials
über Bord werfen müssen: Sie mieteten einen Wagen für die Aktion,
weil ihnen die Zeit fehlte, einen zu klauen. Auch fehlte es an der
Zeit, eine saubere Wohnung zu besorgen, und ein genaues Auschecken
war auch nicht möglich. Aber scheiß drauf. Scheiß auf die
Sicherheit, scheiß auf die neue politische Linie. Die Nächte waren
noch ziemlich kühl, sodass es nicht auffiel, als sie auf dem Weg zum
Objekt ihrer Wahl die Gesichter in den hochgezogen Krägen ihrer
Jacken verbargen. Der Zaun, der das Firmenareal umgab, war kein
wirkliches Hindernis und bald standen sie nun vor den dunklen
Fenstern des Bürogebäudes.
Langsam und vorsichtig holten sie die
Flaschen mit dem Benzin-Ölgemisch aus dem Rucksack und reihten sie
sorgfältig auf dem Boden auf. Gerd zog einen Zimmermannshammer unter
seiner Jacke hervor und wiegte ihn in der Hand. Sie sahen sich beide
wortlos an. Paul bückte sich und nahm eine der Flaschen vom Boden,
zog ein Feuerzeug aus der Außentasche seines Blousons und zischte
leise: «Jetzt». Merkwürdigerweise fiel die große
Bürofensterscheibe fast lautlos in sich zusammen. Paul setzte den
mit Benzin getränkten Lappen des Molotowcocktails in Brand und
schleuderte die Flasche in Richtung der Büromöbel. Die Flasche
zerschellte und ein kleiner Feuerball fegte über einen Schreibtisch
hinweg. Hastig warf er die restlichen Flaschen, die sie nun nicht
mehr entzünden mussten, hinterher. Er stupste Gerd, der fasziniert
auf die Flammen starrte, dann sprinteten sie los, sprangen über den
Zaun und verschwanden in der Nacht.
Jetzt, wo Paul in der Zeitung die
Bilder sah, diese Bilder des Genossen, dessen Name ihm nicht wirklich
etwas sagte und dessen Gesicht ihm nicht vertraut war, erinnerte er
sich plötzlich an jedes kleine Detail dieser kühlen Nacht im April
1989. Er riss sich aus den Erinnerungen, zwang sich dazu, seine
Aufmerksamkeit auf die Porträts in der Zeitung zu richten. Paul
konzentrierte sich auf jenes Bild, das den Toten zeigte. Der Kopf mit
den üppigen Locken und einem deplatziert wirkenden Schnurrbart lag
auf eine ihn befremdende Art und Weise fast aufgebahrt auf dem kahlen
Metall einer Eisenbahnschiene. Es hieß, er habe sich selber
gerichtet, als er, von mehreren Kugeln aus den Waffen eines GSG 9
Kommandos durchsiebt ins Gleisbett stürzte. Das hieß es immer, das
musste es heißen und würde es immer heißen. Für Paul spielte das
keine Rolle. Er spürte ein Verlangen, sich diesem Menschen, dessen
Name ihm bis vor ein paar Stunden zwar bekannt, aber nicht vertraut
war, näher zu fühlen. Er fühlte eine Schuld aufkommen, dass er
diesem toten Genossen in der Vergangenheit nicht mehr Aufmerksamkeit
geschenkt und sich in den ruhigen Momenten des Abends nicht das eine
oder andere Mal gefragt hatte, wie es denen gerade geht, die vor
langer Zeit ein Stück des Weges begleitete. Auch wenn es jetzt
andere Menschen waren, die diesen Weg fortsetzten. Weil all Jene, mit
deren Gesichtern er vertraut war, schon seit langer Zeit entweder im
Knast saßen oder tot waren. Er schaute auf das Bild des toten
Genossen und ertappte sich dabei, wie seine Finger zärtlich über
das Papier streichelten.
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