Man
sollte darauf beharren, dass die Paranoia der
massenpsychologische Treibstoff neofaschistischer und
rechtspopulistischer
Bewegungen ist. Diese
haben
heute die verwundbaren Fremden als ihr geeignetes Feind-Objekt
auserkoren. Und um es gleich vorwegzunehmen, die Paranoia der
Rechtspopulisten und die des Staates verstärken sich wechselseitig.
Aber
die
in Latenz gehaltene Paranoia bleibt
zuallererst
und
in dominanter Weise die
des Staates und seiner Behörden, welche mittels Datenverarbeitung,
Kameras, Satelliten, Computerbespitzelung und Abhörverfahren solch
eine umfassende Beobachtung der Bevölkerung in Szene gesetzt haben,
dass wir
ohne Weiteres von einer paranoiden politischen Situation sprechen
können.
Die
Paranoia wird
gerade
von Seiten des Staates dadurch noch weiter angeheizt, dass trotz der
überwältigenden Macht und Perfektion der technologischen Mittel
doch nicht restlos
alles
im Bild oder auf Band festgehalten werden
kann (und
deshalb weiter überwacht werden muss). Seitdem die weltumspannende
optische Überwachung durch den Satellitenblick möglich ist, bleibt
der nicht überwachte Raum lediglich ein milde zu belächelnder
Atopos, weil eben ein Überwachungssatellit aus wenigen hundert
Kilometern Entfernung mit gepixelter Detailtreue hoch aufgelöste
Echtzeitbilder von jedem Ort der Welt als Top Shots auf die
Computermonitore der Angestellten von Geheimdiensten senden kann.
Dabei kommen die Bilder aus den Kalkülen selbst hervor, sie sind
numerisch programmiert.
Die
Paranoia, von der wir hier sprechen, impliziert die ständige
Konstruktion der Furcht und von solchen
Situationen, die sie
geradezu herausfordern, basierend auf der Befürchtung, dass es ein
total gefährdetes
System geben könnte, welches das Subjekt andauernd durchquert, ein
System, das allerdings eher imaginiert als gewusst wird. In diesem
Kontext dienen sämtliche Wahrnehmungen der Paranoia lediglich als
Zeichen für die Existenz einer unsichtbaren Macht, wobei die
exzessiven Interpretationen der Macht, die schließlich immer darauf
hinauslaufen,
dass die Macht nämlich unauffindbar bleibt, den paranoiden Wahn
letztendlich generieren. Die Paranoia ist hier nicht pathologisch zu
verstehen, sondern als ein normalisierendes und bis zu einem gewissen
Maß institutionalisiertes Verfahren, das verschiedene
Intensitätsstufen durchlaufen kann, sodass alles in allem von einer
funktionalen Paranoia gesprochen werden muss. Man kann über Paranoia
nur reden und schreiben, wenn sie auf den Deutungswahn (Lacan) hin
zugespitzt wird, der darin besteht, in alles und jedes Bedeutungen
hineinzulegen. Egal
ob die Paranoia ungeformt bis pathologisch ist, wie dies Jacques
Lacan
annimmt, oder gar durch rationalisierende Begründungen angereichert
werden kann, sie bleibt, wenn sie kollektiv angestimmt wird, ein
Normalitätsverfahren, eine Patho-Logik mit verschiedenen
Normalitätsgraden und Abstufungen, wobei die ständige Übertreibung,
die heute vor allem medial und in den sozialen Netzwerken betrieben
wird, der Paranoia sehr entgegenkommt. Es scheint, als würden
Prävention, Prophezeiung und Paranoia zusammen eine Tendenz zur
»self-fullfilling prophecy« ausbilden; sie produzieren das, was sie
antizipieren, gleichsam virtuell sowie als imaginäre Erwartung,
während die Auswirkung paranoider Handlungen auf das Soziale
durchaus gefährliche Realitätseffekte erzeugt.
Die
Produktion der Paranoia durchläuft mehrere Stufen. Sie
beginnt in einer unsicheren und angespannten Atmosphäre, in
der man lediglich weiß, dass etwas nicht stimmt. Ihr
folgt eine Stimmung, in der Situationen plötzlich Sinn ergeben und
die Welt mit Bedeutungen
angefüllt
wird, und sie endet in einer dritte Phase, in der die Dinge und
Situationen mit Bedeutungsüberschüssen supplementiert werden. Die
Paranoia impliziert also immer einen Deutungs- und Bedeutungswahn,
der sich in einer unverrückbaren symbolischen und imaginären
Ordnung verfestigt, die relativ konsistente Wahnaggregate etablieren.
Und damit wird ein altes Symbolsystem durch eine gewisse Anzahl von
kollektiven Wahnaggregaten ersetzt, mit denen sich eine, wenn auch
fragile symbolische Ordnung herstellen lässt, die heute in den
Medien ständig transformiert wird. Wenn
heute
etwa
eine
bestehende
Faktenlage mit Daten- und Informationsströmen und Fake-Konvulsionen
über alle Medienkanäle regelrecht überflutet wird,
sodass allein schon wegen dieses Exzesses jeder Sachverhalt
problemlos umgedeutet werden kann. Es
lässt
sich oft
kaum
noch ausmachen, was angesichts des Überangebots an Informationen
gezielte Desinformation oder nur ungenaue Rasterung ist. Damit
wird
das Verarbeitungsproblem selbst immer prekärer, sodass schließlich
nur noch die permanente Rekonstruktion der riskobehafteten Ereignisse
hilft, bei der allerdings alle Bedingungen, die zu einem Ereignis
geführt haben, von der Rekonstruktionsarbeit im Rahmen
teleologischer Notwendigkeit selbst gesetzt werden. Dabei
konstruieren die Paranoiker entweder Verschwörungen oder sie
verkünden die Gabe, die dunklen Geheimnisse anderer durchschauen zu
können, noch ehe sie überhaupt in die Welt gesetzt werden, sodass
dem paranoiden Urteil auch eine antizipierende Präventivlogik
entspricht, mit der ein Verdächtigter von vornherein als schuldig
gilt. (Vgl.
Deleuze/Guattari 1992: 393) Jüngste Ereignisse wie der Brexit, die
Fake-News-Politik
Trumps oder die notorische Lügenpolitik des Rechtspopulismus zeigen,
dass die Aussagen in dieser postfaktischen Lage teilweise noch nicht
einmal mehr des Anscheins von Wahrheit bedürfen. So
werden etwa Kriminalitätsraten in Deutschland wissentlich falsch mit
Flüchtlingen in Verbindung gebracht, was weder ein Schamgefühl
hervorruft noch zu ernsthaften Konsequenzen für die Medien, die das
Postfaktische verbreiten, führt.
Insofern
verwundert es nicht, dass dem
postfaktischen
Zeitalter die unaufhörliche Generierung und Interpretation von Daten
immanent
ist,
was allerdings längst nicht beliebig (und ohne jede Bedeutung)
verläuft, sondern aufgrund der institutionell geschaffenen
Kontingenzlagen eine paranoide Form annimmt. Diese
wiederum wird
durch
die automatisierte Auswertung großer Datenmengen zu dem Zweck der
Erkennung von Mustern, Regelmäßigkeiten und verborgenen
Gesetzmäßigkeiten in den Datenströmen, technologisch untermauert.
(Doll 2016: 312) Diese Verflüssigung der Bedeutung im endlosen
Datenbrei in Folge
der permanenten Suche nach Mustern und Korrelationen in den
produzierten Datenmengen heißt nicht, wie etwa von Baudrillard mit
seiner Simulationstheorie angenommen, dass jede Bedeutung
verschwindet und die Zeichen indifferent lediglich noch im Als-Ob
zirkulieren (Baudrillard 1982), sondern dass
der Deutungswahn immer intensiver um sich greift, gerade
aufgrund des Faktums, dass nach wie vor be- und gedeutet werden muss,
unabhängig davon,
was nun im
Einzelnen bedeutet wird. Dies
liegt in der letzten Instanz in der auf die Zukunft ausgerichteten
Kapitalisierung, die sowohl das Geld als
auch die
Bits in ihrer Austauschbarkeit als auch eine auf die Zukunft
kalkulierende Vermehrung des Kapitals umfasst, einzig
zu dem Zweck,
alles und jedes als Finanzanlage zu inszenieren, die, unabhängig
vom Basiswert,
auf den
sie sich
angeblich
bezieht,
nichts außer Rendite erwirtschaften soll. (Vgl.
Vief 1991: 132f.)
Bezüglich
der Austauschbarkeit von
Bits erweist sich der Computer als ein Zeichentransformator,der
reine Information prozessiert, aber nicht ohne Inhalt, sondern mit
beliebigem und
austauschbarem Inhalt. So wie Geld gegen Ware austauschbar sein muss,
gleichgültig, gegen welche, so müssen Bits etwas bedeuten,
gleichgültig, was sie bedeuten. (Ebd.)
Geld und Bits indizieren Kommunikation eben
ausschließlich
unter dem Aspekt der Negation einer spezifischen Bedeutung. Oder,
um es anders zu sagen, unter Ausschluss jeder Bedeutung, außer der,
dass unaufhörlich bedeutet werden muss, sodass Dassheit
oder die die
durchkreuzte Perspektive des Sinns hier eindeutig in den Vordergrund
tritt. Es kommt deshalb gerade auch bei der gegenwärtigen
Dateninvasion zu keinem Bedeutungsverlust, sondern zu einer
Bedeutungsüberproduktion, die der durch das Kapital gesetzten
Gleichgültigkeit jeder Bedeutung gegenüber
komplementär
ist, aber es muss ja nach wie vor bedeutet werden, ansonsten fiele
das
System auseinander.
Diese
Art der Bedeutungsüberproduktion macht den wirklichen Verlust an
Bedeutung aus.
So
zeichnet sich heute das kreative Vermögen der Hightech-Paranoia
weniger durch einen Mangel an Orientierungswissen als durch die
Überproduktion von Bedeutung aus, die aus dem Spiel resultiert,
dass es überhaupt Bedeutung gibt. Wenn Bedeutungen in vielfach
zirkulierenden artifiziellen Deutungsverfahren austauschbar werden,
woraus die Kämpfe um die Deutungen erst entstehen, dann folgt quasi
zwangsläufig eine wahnwitzige Suche nach der Bedeutung. Während das
Kapital durchaus mit dieser Art des Bedeutungsverlusts durch die
Überproduktion von Bedeutungen leben kann, so ist das für den Staat
nicht ohne Weiteres
möglich, denn wie
wir gesehen haben, mit ihm ist die Äquivalenz aller Bedeutungen in
Frage gestellt, wenn er als der Standpunkt aller Standpunkte
ausgewiesen werden soll.
Man
könnte mit Lacan sagen, dass der ungefilterte Datenstrom der Bereich
des Realen ist, während Informationen und Metadaten die Realität
wiedergeben, eine durch kognitive Filter und technologische
Infrastrukturen intelligibel gemachte Welt, die selbst wiederum aus
Registern des Imaginären und Symbolischen zusammengesetzt ist.1
Unentwegter
Anfall von Daten, Informationen und Meinungen, die geradezu
hysterisch, insbesondere in den sozialen Netzwerken, aufeinander
reagieren, als gleich
und
als verschieden in jedem Moment, um Wahnaggregate
und Illusionsabfälle jedweder Art zu erzeugen. All das ist aber
keineswegs offen in dem Sinne, dass ein Beobachter die Differenz von
Vorher/Nachher so setzt, dass er weder die eine noch die andere Seite
bezeichnet, sondern die Differenz selbst, nämlich die Gegenwart, die
wiederum selbst als Differenz ein Nicht-Ort ist und damit offen
bleibt. Stattdessen wird penetrant die Alternativlosigkeit des
Systems entlang einer immergleichen Gegenwart, die sich wie Kaugummi
zieht, gepredigt, und die deshalb hinsichtlich ihres Bezugs auf die
Zukunft trostlos bleibt, handelt es sich doch beim Kapital als dem
alles konstituierenden System um die Beleihung oder den Zugriff auf
eine damit je schon modifizierte Gewordenheit der Zukunft, die
wiederum auf die Gegenwart zurückwirkt, insofern die Gegenwart durch
das bestimmt wird, was sie in Zukunft gewesen sein soll
und
eben nicht gewesen sein wird.
Damit
ist das System im Sinne des Futur II
zwar geschlossen, vergisst aber gründlich, das die Zukunft schwarz
und kontingent bleibt.
Das
Postmediale zeichnet sich nicht durch die radikale Abschaffung der
alten Medien, sondern durch ihre Transformation und ihre
Vermischung
mit neuen Medien aus. Jedes Ding und jedes »Ereignis« - es kann
noch so sehr auf Singularität gepocht werden, wie dies die
Propagandisten der Singularitätsgesellschaft tun - ist heute in
mediale Netzwerke, in denen Objekte und Subjekte, Meinungen und
Gegenmeinungen endlos zirkulieren, nicht nur integriert, sondern wird
häufig in den Clouds der sozialen Netzwerke erst konstruiert.
Und
diese Netzwerke werden permanent mittels der personalisierten und
personalisierenden Algorithmen der Datenindustrie durchsucht und
ausgebeutet. Dabei frönen die Subjekt-Gruppen im Internet keineswegs
der freien Partizipation und erfreuen sich der Re-Singularisierung,
vielmehr werden die Medien an die neuen Bedingungen der
Datenproduktion angepasst. In den sozialen Medien wird der geteilte
und zugleich atomisierte User, wenn seine Beschäftigung in
unbezahlter Zeit als Datenquelle produktiv gemacht wird, der
algorithmischen Governance zugeführt, wobei diese Art der
algorithmischen Datenverwaltung zu neuen Formen der zerebralen
Verwüstung führt.
Klar
ist, dass der Deutungswahn die manische Suche nach Zeichen und deren
Relationen unentwegt bedienen muss, um eben auch die politischen
Argumentationen, die in den Medien und Staatsmaschinen zirkulieren,
zu untermauern. Dieser Prozess kann auf der Ebene der Politik deshalb
in Gang gesetzt werden, weil es heute a) die notorische
Datenerfassung und -verarbeitung des Staates gibt (verbunden mit der
Angst der Bevölkerung, dass sich ein technischer Super-Player
entwickeln könnte), b) eine automatische Mustererkennung der Daten
erfolgt, die einer Algorithmisierung des Deutungswahns gleichkommt,
und c) die Angst des Einzelnen persistiert,
dass dieser staatliche Apparat sich verselbständigen könnte. Dabei
ist das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Staat das
Spiegelbild des Misstrauens des Staates gegenüber dem äußeren und
inneren Feind. Die Staatsparanoia ist durch dieses Wechselverhältnis
geprägt. (Doll 2016: 308) Gerade die Geheimdienste vertrauen auf den
von ihnen eingehauchten paranoiden Modus ihrer Computerprogramme, in
dem exzessive Datenverarbeitung betrieben wird, um Muster und
Korrelation in den Metadaten zu erkennen und damit Feinde regelrecht
zu konstruieren. Wenn angenommen wird, dass die gegnerische Seite
einem stets das Schlimmste
zufügen will und der Feind überall sitzt, dann kommt es zu einer
Art paranoider Kriegsführung des Staates mittels einer auf Dauer
gestellten Datenparanoia. (Ebd.)
Schließlich
fließt die Paranoia in die Programmanweisungen auf der Ebene der
algorithmischen Datenverarbeitung selbst ein, sodass die Computer
heute demselben Trend wie die Staaten unterliegen - sie werden dazu
programmiert, alles verdächtig zu finden, weil sie für
die
Suche nach gefährlichen Datenclustern programmiert werden. Dabei
greifen die für die Datenfilterung notwendigen Algorithmen auf
spezifische Muster zurück. So lässt die staatliche Paranoia selbst
noch die Suchalgorithmen der Datenverarbeitung paranoid werden, d. h.
sämtliche
Daten und Metadaten werden als die eines Feindes behandelt.
Seine
Herkunft hat Big Data in der manischen Produktion von Mustern und
Korrelationen an den Finanzmärkten. Wird Big Data nun in staatlichen
Kontexten eingesetzt, dann geht es um die Produktion von politischen
Sinnstiftungen, gerade durch die
Suche in
den entsprechenden Datenkolonnen nach Mustern und Korrelationen, um,
darauf aufbauend »Antworten« zu solchen
Fragen finden,
wie beispielsweise die Bevölkerung sich als ein soziales Aggregat
verhält und wie die Einzelnen auf weitere staatliche Zumutungen
reagieren. Es kann aber bei der Datenverarbeitung durchaus auch zur
Herstellung von zufälligen Korrelationen zwischen verschiedenen
Komponenten kommen, deren Wichtigkeit man überschätzt oder die ohne
jede Aussagekraft sind, bis hin zur Wahrnehmung von Mustern und
Korrelationen, wo eigentlich gar keine aufzufinden sind. So erzeugt
die Datenparanoia, gerade indem die Datenerfassung quantitativ immer
weiter wächst, ständig diese Art von Clustering-Illusionen. (Ebd:
313) Und aufgrund zufällig gefundener Korrelationen können dann
eben auch die
falschen
Personen
ins Visier der Geheimdienste geraten.
Beim
Cloud-Computing wiederum wird mit der Datenverarbeitung auf Zukunft
spekuliert. Ob die gesammelten Daten nach ihrer automatisierten
Verarbeitung und der Addition weiterer gesammelter Daten in der
Zukunft wirklich einen Sinn ergeben werden, das wird sich wiederum
erst zu einem späteren Zeitpunkt zeigen. Die Paranoia zeigt hier an,
dass sich Normativität aus der Konstruktion einer Zukunft ableitet,
die immer auch anders sein könnte, und gerade deswegen einerseits
immer weiter betrieben und andererseits normalisiert, also
präventiv bearbeitet werden muss. Die staatliche Paranoia hängt
also eng mit der Prävention zusammen, denn sie besitzt selbst
antizipatorische Aspekte. Es sollen zukünftige, negativ besetzte
Überraschungen dadurch vermieden werden, dass man sie bereits in der
je schon unsicheren Gegenwart erkennt. Die
Zukunft ist heute schon als virtueller Grund vorhanden, und zwar in
der Form eines gegenwärtigen Risikos, das den Einsatz präemptiver
und teilweise schon automatisierter Regierungsformen und eben auch
den besonders repressiver Instrumente legitimiert. Es regiert
inzwischen eine digitale, technologische Performativität, die durch
eine algorithmische Governance entstanden ist, welche für sich
proklamiert, auf Autopilot eingestellt
zu
funktionieren.
Über
all dies hinaus füttert der Staat die Paranoia, laut Canetti eine
Krankheit der Macht, mit ganzen Registern der Affektmodulation. So
können Farben als kollektive Warnsignale für die Bevölkerung
dienen, wodurch sich, wie bei
George W. Bushs
Anti-Terror-Maßnahmen,
mit dem Einsatz bestimmter Farben als Warnsysteme nach dem
11.September
zu beobachten war, zentrale Regierungsfunktionen, die auf Prävention
hinauslaufen, direkt mit dem Nervensystem jedes Einzelnen verkoppeln
lassen. »Direct Perception« ist eine amediale, asymbolische
Wahrnehmung (Massumi 2010: 106), die darauf basiert, dass Zukünftiges
sich zu einem emphatischen Erleben des Gegenwärtigen verdichtet.
Somit erweist sich das Ereignis 9/11 im Nachhinein als eine
Sollbruchstelle der Macht, mit der neue Deutungsinstanzen geschaffen
wurden, die den kommenden Abgrund der Katastrophe, der ja eine
Konstruktion bleibt, durch die Hyper-Produktion von Kontingenz- und
Verschwörungs-Narrativen am Laufen halten sollen. Dies
geschieht vor allem,
indem der Glaube an kohärente Kausalitäten in der Politik in einen
Modus der Latenz überführt wird, wenn es bei den Massen nicht zu
der vielbeschworenen Politikverdrossenheit kommt, sodass weniger mit
Diskursen als mit Stimmungen Politik gemacht werden muss. Dadurch
entsteht ein
regelrechter Stimmungsmarkt, der weniger
fluide
als
der Kapitalmarkt ist, weshalb
an jenemRegulationsmechanismen eingesetzt werden müssen,
die der Kapitalmarkt nicht kennt.
Im
Zuge des Aufstiegs rechtspopulistischer Bewegungen ist die stets
reaktionär besetzte und aufgeschäumte Furcht vor dem sozialen
Abstieg bei einigen Bevölkerungsteilen, gerade auch in Europa,
längst in eine Passion umgeschlagen, und mit jedem Ruf nach noch
höheren Zäunen an den europäischen Grenzen erreicht diese
kollektivierte Passion eine noch höhere Stufe der libidinös
besetzten Paranoia, die, und das ist bemerkenswert, wiederum in
neuen, staatlichen, infrastrukturellen und architektonischen Formen
sowie Ausschlussmechanismen erstarrt. Dieser massenintensiven
Paranoia bleibt also letztendlich die staatliche Regierungsform der
Verunsicherung der Sicherheit vorausgesetzt, welche den Ausbau einer
sozialen Polizei benötigt, die heute gerade dafür sorgt, dass
weltweit immer mehr Menschen als virtuelle Feinde und Terroristen
markiert werden. Von daher muss verstanden werden, warum die neuen
Formen der sozialen Polizei und der Militarisierung im sozialen Feld
von der diskursiven Konstruktion der neuen Figur des Feindes nicht zu
trennen sind. Diese
Form der Feindkonstruktion erzeugt
eine Monströsität, die in der allgemeinen Virtualisierung eines
unspezifischen und nicht-qualifizierten Feindes kulminiert, der durch
beschleunigte Verfahren der Qualifikation und der kontinuierlichen
Requalifikation ständig aktualisiert werden muss, um den Preis einer
wachsenden Kriminalisierung all derjenigen sozialen Praktiken, die
mit den Institutionen des Kapitals und des Staates nicht konform
gehen. Gegenwärtig fließt die kollektive Paranoia kontinuierlich
durch symbolische und imaginäre Monumente, über Schleusen und in
Kanalisierungssysteme hinein, die ständig mit den Wünschen
gefüttert
werden,
die sich am neoliberal propagierten, possessiven Individualismus ohne
Individuum orientieren, der vor allem in der Mittelklasse, aber auch
bei den Abgehängten wütet. Dieser
Individualismus verbindet
sich bei den Mittelklassen mühelos mit einer Form des Nationalismus,
der durch eine Art Opferlogik gefüttert wird, die ausschließlich
dazu dient, einen größeren Anteil am allgemeinen Reichtum
einzufordern, wobei für das Scheitern der eigenen Bemühungen
allerdings nicht Staat und Kapital, sondern die Flüchtlinge
verantwortlich gemacht werden. Ein
Theoretiker der Frankfurter Schule, Franz Neumann, hat das
Zusammenspiel von äußerer Angst, Krise und innerer Angst für die
Anfälligkeit der Bürger gegenüber einer Politik der Stimmungen
verantwortlich gemacht. (Neumann 1967: 266ff.) Die äußere Angst
reagiert auf ökonomische und politische Krisenphänomene, wobei an
dieser Stelle
die Stimmungen der rechtspopulistischen Bewegungen auf die
neoliberale Reduktion von Politik auf einen produktiven Kampf der
ökonomischen Interessen reagieren,
die durch die Kapitalisierung aller sozialen Beziehungen fundiert
wird, um die Angst (der
Mittelklassen)
vor dem Verlust an Privilegien und ökonomischen Standards zu
bedienen. Die
Kapitalisierung ist hier unbewusst der ökonomische Krebs, der die
verfügbaren Einkommen der Mittelklasse und des Prekariats zerfrisst.
Auf der Flucht, die heute weniger eine aus dem öffentlichen Leben
ist, wie dies Neumann noch annahm, sondern eine Flucht in das
Mögliche,
treffen die Individuen, denen man ständig einimpft, dass es um
nichts weiter als um die Vermehrung ihres eigenen
kleinen
Kapitals
gehe,
das
ihr
Leben sein soll, auf
das
innere Monster eines Hyper-Narzissmus,
dessen Verläufe psychischen Handelns
den Katastrophentheoremen, die man im medialen Feld inszeniert,
grotesk ähneln. So lässt man bereitwillig die schlecht designte
Welt hinter sich, um ein Ego zu entdecken, das zur Bestialität
zurückzukehren drängt und mit der Konstruktion des
finanzialisierten Risikosubjekts gefördert wird, was
aber für den größeren Teil der Bevölkerung mit
Verschuldung identisch ist,
womit
dieser von
der finanzialisierten Ökonomie, ohne Blasen auf dem
Meer der
Verschuldungen zu hinterlassen, absorbiert werden. Weiterhin
mobilisiert man aber
die
Freiheit der Bürger als Versprechen, eine Freiheit, die aber
oft
genug in den glücklosen Kreisläufen der Verschuldung zirkuliert,
sodass
die latente
Furcht,
die in den Zustand der Erschöpfung führt, in einen
politischen
Sadismus, der sich gegen die Armen und Fremden richtet, überführt
werden
muss.
Ein derart dekonstruiertes Selbst sendet im Zustand der
Machtlosigkeit Signale aus, auf die sich die rechtspopulistischen
Bewegungen ohne Weiteres stützen können, wobei sie die äußere
Angst, die auf den drohenden Verlust der Privilegien reagiert und
zugleich auf die Flüchtlinge projiziert wird, bedienen, während
gleichzeitig eine politische Therapeutik für die Stimmungen des
Versagens und Befindens der Einzelnen verordnet wird.
Dabei
transponiert man die äußere Angst in einen politischen Sadismus,
der keinerlei Mitleid mit den Armen und Ausgeschlossenen kennt und
sich deshalb gegen die Surplus-Bevölkerung im Süden (und Westen)
richten muss. Die rechtspopulistische Therapeutik des politischen
Sadismus kann
also an das angsterfüllte und zugleich zynische
Ego-Interesse des
finanzialisierten Risikosubjekts, das den Eros der ökonomischen
Auslese bedient, anknüpfen.
Die endlose Wiederholung stereotyper, projektiver Formeln, von der
Adorno schon gesprochen hat, ist der diskursive Treibstoff des
Rechtspopulismus,
der
die
neoliberale Politik heute in Richtung eines frei treibenden
Unbehagens zu organisieren versucht. Umgekehrt
benötigt die
neoliberale Elite,
um
jeden Veränderungswillen in der Bevölkerung zu ersticken,
zur Sicherung ihrer Macht bis
zu einem gewissen Maß den
von ihr auch
geförderten Rechtspopulismus
als Mittel zur Angsterzeugung und
der Mobilisierung.
Die dmit
einhergehende Transformation
politischer Angelegenheiten in religiöse Konflikte, Fake-News und
Zivilisationskriege wurde im Übrigen von allen Apparaten der
neoliberalen Macht von Anfang an mit betrieben. So
wundert es denn auch nicht, dass die kollektiv organisierte Paranoia
permanent mit identitären Wahnvorstellungen, Fake-News und Delirien
angereichert wird, um schließlich einen derart hochexplosiven
Zustand zu erreichen, sozusagen einen Kairos,
an dem die Politik der Gefühle um des eigenes Glücks willen den
Genozid einfordert, der an den Fremden, den Armen und den
Eindringlingen ausgeübt werden soll, im Endeffekt an der globalen
Surplus-Bevölkerung. Die Strategien bleiben trotz der neuen
situativen Vermischung von Versatzstücken völkischer Elemente, von
Ausländerfeindlichkeit,
Rassismus und Nationalismus, wie sie vor
allem im Osten Deutschlands auf
die Straße getragen werden, klassisch auf die Machtübernahme des
Staates ausgerichtet - so gibt es klare Hierarchien, Funktionen und
Arbeitsteilungen bei
den Rechtspopulisten, den staatsmännischen AfD-Kadern und
der sich
bewegenden
Exekutive aus Neonazis
und rechten Hooligans,
zudem
verstrickte Geheimdienste, eine
zum Teil schon infizierte Polizei sowie ein grölendes »Volk« -
alles in allem handelt
es sich
um situative,
maschinelle Verkettungen eines protofaschistischen Gesamtgefüges.
1Sinnsuche und Deutungswahn haben die Form der Zeit, und die Zeit hat die Form von Sinnsuche und Deutungswahn. Paranoia ist die Produktion und Zirkulation von Deutung durch die Produktion von Differenz, geknüpft an das Durchschießen des Realen (Rauschen) mit weichen Lücken und das Durchschießen von aufdringlichen Dauern mit (harten Lücken).
Aus:
Achim Szepanski
Imperialismus, Staatsfaschisierung und die Kriegsmaschinen des Kapitals
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