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Über Entfremdung, die Situationisten und die alltägliche Revolution

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In diesem seltenen Interview äußert sich der ehemalige Situationist
Raoul Vaneigem über die Revolte der Gilets Jaunes, den technischen
Fortschritt und das Versagen des Intellektualismus. Es ist zuerst im
englischen im ROAR Magazine erschienen.

Der
in Belgien geborene Schriftsteller, Gelehrte und Theoretiker Raoul
Vaneigem (*1934) ist am bekanntesten als Autor des Buchs Handbuch
der Lebenskunst für die jungen Generationen
,
einer umfassenden Untersuchung der Entfremdung des Individuums im
Kapitalismus und einer lebhaften Forderung nach eine
postkapitalistische Gesellschaft, die auf radikaler Selbstverwaltung
und nicht-hierarchischen sozialen Beziehungen beruht. Er schrieb das
Buch während seines produktiven Engagements in der berüchtigten und
einflussreichen Situationistischen
Internationale
(SI, 1957-1972).

Geboren
aus verschiedenen surrealistischen Avantgarden des Europas der
Zwischen- und Nachkriegszeit, waren die Situationisten eine
vielfältige, auffallend kleine, aber immer strenge transnationale
Gruppe von marxistisch inspirierten Künstlern und Schriftstellern,
deren anfängliches Bestreben darin bestand, die Trennung der Kunst
vom gelebten Alltag aufzuheben. Sie konstruierten bewusst
„Situationen“, welche die bürgerliche Welt des
Konsumkapitalismus untergraben sollten, eine Ordnung, die sie als
spektakuläre Gesellschaft bezeichneten – ein Konzept, welches
später von Guy Debord ausgearbeitet wurde – die authentisches
Leben ausschloss und unvermeidlich soziale Entfremdung erzeugte.

Als
Vaneigem 1961 in ihre Reihen eintrat, wurde die Kritik der
Situationisten immer politischer und radikaler und richtete sich
nicht nur gegen den Staat und das Kapital, sondern auch gegen die
etablierte Linke in ihren vielen Formen. Sie waren zutiefst
antiautoritär und riefen nicht nur zur Neuerfindung des Alltags auf,
jenseits des Spektakels im Hier und Jetzt, sondern auch zum
Klassenkampf und zum gewaltsamen Sturz des Kapitalismus.

Heute
ist die SI am ehesten dafür bekannt, dass sie während des
revolutionären Frühlings 1968 in Frankreich, an dem die „Situs“
aktiv teilnahmen, unter Studentenaktivisten eine neue politische
Sprache und Rhetorik inspirierte.

Ein
Jahr zuvor erschienen fast gleichzeitig zwei sehr unterschiedliche
Bücher welche die Bewegung und ihr Erbe bis heute definieren.
Vaneigem veröffentlichte sein „Handbuch der Lebenskunst für
die jungen Generationen“, während sein Genosse, der berüchtigte
Filmemacher, leitende Theoretiker und Schriftsteller Guy Debord, das
mittlerweile klassische Werk Die
Gesellschaft des Spektakels

veröffentlichte.

Vaneigems
Buch, dessen englischer Titel eine offensichtliche Anspielung auf
Henri Lefebvres Klassiker
ist, hat sich als äußerst einflussreich erwiesen und wurde in mehr
als zehn Sprachen übersetzt. Weniger bekannt sind jedoch die
schriftlichen
Interventionen
von Vaneigem, die erschienen, nach dem er sich,
desillusioniert von der allmählichen Verknöcherung und dem
zunehmenden autoritären Führungsstil dessen, was damals noch von
der Gruppe übrig war, von der SI im November 1970, trennte.

Die
meisten dieser Veröffentlichungen gehen weiter auf einige der
Schlüsselthemen ein, die er in seinem Buch von 1967 untersucht hat:
organisierte Religion, die (historische) Macht der Kirche, Subversion
und Dissens. Ab den späten 1980er Jahren widmete sich Vaneigem,
seiner Zeit aufgeteilt zwischen einem Rückzugsort auf dem Land und
ausgedehnten Reisen, der Geschichte mystischer Traditionen, Häresien
und dem Millenniarismus im mittelalterlichen Christentum.

Ebenfalls
beschäftigte er sich auch mit Themen wie Zensur und Redefreiheit,
Menschenrechtserzählungen und Müßiggang. Zu den jüngsten
bemerkenswerten Veröffentlichungen gehören ein Essay über
Polyamorie,
Erinnerungen
von 1968
und ein utopischer
Roman
. Die Idee für dieses Gespräch entstand zum ersten Mal im
Sommer 2017 in Rom, wo Vaneigem an seinem Wörterbuch der Ketzer
arbeitete und ich Nachforschungen anstellte. Ausgehend von einer
Reihe informeller nächtlicher Diskussionen wurde der Austausch in
den letzten zwei Jahren durch E-Mails ergänzt.

Vielen Dank an meine Freunde Kenan Van De Mieroop und Thibault
Deleixhe für die großzügige Unterstützung bei der englischen Übersetzung
aus dem Französischen.


Houssine Alloul: Vor ein paar Jahren haben Sie einer Reihe von Interviews mit dem französischen Herausgeber von Les éditions Allia,
Gérard Berréby, zu Ihren Kindheits-, Familien- und Kriegserinnerungen
sowie zu Ihrer Zeit in der SI zugestimmt. Das Ergebnis wurde in einem
eigenartigen, aber überzeugenden Band Rien n’est fini. Tout commence, veröffentlicht.
Sie sprechen nicht nur offen und kritisch über die Situationisten,
sondern auch über sich selbst. Warum haben Sie diese oft sehr
persönlichen Erinnerungen geteilt?

Raoul Vaneigem: Als
ich durch Flobecq (eine Gemeinde in Wallonien) fuhr, wo ich damals
lebte, war Gérard Berréby auf meine Weigerung gestoßen, überhaupt
ein Interview zu geben, da intervenierte meine Tochter Chiara und
sagte zu Gérard: „Bring Sie ihn zum Sprechen! Er erzählt uns nie
etwas!“ Die ersten Interviews waren nicht sehr ermutigend. Ich
wollte keine Anekdoten aus der Vergangenheit erzählen, aber es ist
Gérard Berréby gelungen, aus den offensichtlichen Trivialitäten
und Vergeblichkeiten einige Fäden herauszuholen, die eine ganze
Reihe wesentlicher Ideen meiner Bücher verdeutlichen.

Meine Absicht war es
vor allem zu zeigen, wie es einer radikalen Bewegung möglich war, in
genau die Ideologie und den Autoritarismus, die sie bekämpfte, zu
verfallen und die damit in die schlimmsten Fehler der Vergangenheit
zurückgerutscht war. Die
Kritiker des Buches haben dieses Problem jedoch nicht angegangen und
es vorgezogen, die Aufmerksamkeit auf die Geschichten einer Kindheit
und Jugend in einer kleinen Stadt zu lenken, in der das Leben durch
die Ausbeutung der Arbeiter und das Bewusstsein eines unvermeidbaren
Aufstands unterbrochen wurde.

Sie
sprechen auch über die Figur Ihres Vaters, einen Eisenbahnarbeiter,
antiklerikalen und militanten Syndikalisten, der eine Kopie von
Alfred Defuisseaux Le Cathéchisme
du Peuple

von 1886 besaß. Sowohl Ihr Vater als auch diese jetzt unbedeutende
belgische Broschüre scheinen Ihr späteres Denken erheblich
beeinflusst zu haben.

Mehr
als die Lektüren, so wichtig sie auch waren, war es das alltägliche
Leben, das meine Gedanken nährte und der Verwirrung der Gefühle zum
Opfer fiel. Ich hatte das Glück, von einer Familie geliebt zu
werden, die trotz düsterer Löhne die Gelegenheiten zum Schlemmen
vervielfachte (es ist nicht so,
pflegte mein Vater zu sagen, weil wir elend sind, dass wir elend
leben müssen ).
Mich haben auch keine dieser häuslichen Konflikte geplagt, die
Jugendliche zum Schreien bringen, „Familie, ich hasse dich“.

Auf
der anderen Seite erfuhr ich die volle Last der Grausamkeit der
sozialen Ausbeutung: der von der Arbeit abgestumpfte Arbeiter, der
sein Gehalt versoff und seine Frau schlug, die missbrauchten Kinder
und Tiere, der Zynismus und die
Verachtung der Bourgeoisie aus den oberen Stadtvierteln und der
endemische Hass, den der untere Teil der Stadt, in dem
ich wohnte und wo die Porphyr-Steinbrüche waren,
in ihnen geschürt hatte.

Ich
freue mich, heute im Aufstand der Gilets Jaunes (Gelb Westen) diesen
Aufstand wiederzufinden, der aus der unerträglichen, uns
aufgezwungene Art des Lebens resultiert. Und man kann sehen, wie sehr
dieses Phänomen dem Verständnis der Intellektuellen entgeht, diese
Fische, die in den Aquarien der Macht zappeln, eine unersättliche
und verängstigte Brut, die an die Vorherrschaft des Intellekts,
ihres Intellekts glaubt.

In
Rien n’est fini
erzählen Sie auch von ihren Erinnerungen an das Aufwachsen in der
Grenzstadt Lessines und dem Schulbesuch in der flämischen Stadt
Geraardsbergen. Sie berichten,
dass es keine Feindseligkeit gegenüber Flamen gab, diese wurde
verdunkelt, durch ein allgemeines Bewusstsein für „la question
sociale“. Heute scheint die flämische Arbeiterklasse von
(rechtsextremen) flämisch-nationalistischen Parteien verführt und
von ihrer rassistischen und islamfeindlichen Sprache so fasziniert zu
sein, dass sie die neoliberale Agenda, die sie durchsetzen wollen,
nicht zu bemerken scheint. Wie ist das passiert?

Die Bürokratisierung und der Klientelismus der sogenannten
Arbeiterparteien und Gewerkschaften haben das Gewissen der
Arbeiterklasse untergraben. Dem Konsumismus ist es gelungen, das
proletarische Bewusstsein zu demontieren. Das Proletariat hat sich in
den Zustand des Plebs zurückentwickelt, resigniert und aufgeregt, auf
den es vor dem neunzehnten Jahrhundert beschränkt war. In Contribution à l’émergence de territoires libérés de l’emprise étatique et marchande erkläre ich dies.

Wenn
das soziale Bewusstsein verschwindet, wird die Ablehnung blind und
verschlingt sich in die abstoßendsten Emotionen, durch welche die
Manipulation der extremen Rechten sich auszeichnet. Was heute mit der
Gilets-Jaunes-Bewegung wieder auftaucht, ist kein proletarisches
Bewusstsein, sondern ein menschliches Bewusstsein, das gegen alle
Barbareien kämpft.

Das
Erbe von König Leopold II., der den Kongo geplündert hat, ist in
Belgien nach wie vor ein umstrittenes Thema, das schmerzlich durch
die politische Unentschlossenheit darüber symbolisiert wird, was mit
den vielen Statuen zu tun ist, die das Land verunreinigen und seine
Regierungszeit verherrlichen. Aber in Ihrem Gespräch mit Berréby
erinnern Sie sich, wie er vor einem halben Jahrhundert in Teilen
Belgiens bereits kritisiert wurde. In der kollektiven Vorstellung der
Werktätigen von Léssines war er ein Tyrann. Was halten Sie von den
laufenden
Debatten
über die Entfernung der Statuen von Leopold II. und
anderer belgischer Kolonialisten?

Nicht mehr als über die Statuen von Hitler, Stalin und Franco. Wir
müssen nicht länger die Ehre dulden, die den Tätern von Verbrechen gegen
die Menschlichkeit zuteil wird, wie Leopold II. und den Roter-Kautschuk
-Folterern (im Original red rubber tortures, eine Bezeichnung für die
Arbeitspolitik zu Ausweitung der Sklavenausbeutung in der
Kautschuckförderung im kolonisierten Kongo, Anm. d. Ü.). Ich würde
es vorziehen, dass die Säuberung dieses Mülls der Vergangenheit in
einer großen kollektiven Bewegung durchgeführt wird, die auch den
Müll der Gegenwart säubert, und nicht nur kleine heimliche
Einzelaktionen, so verdienstvoll sie auch sein mögen.

Ein
weiterer Geist, der die ehemalige belgische Metropole heimgesucht
hat, ist der des ersten Premierministers des befreiten Kongo: Patrice
Lumumba. Nach Mobutus Putsch im Januar 1961 wurde er ohne
Gerichtsverfahren brutal hingerichtet. Bei den belgischen
Konservativen ist sein politisches Erbe immer noch umstritten, was
die langjährigen Debatten über die Benennung eines Platzes nach ihm
im Matongé-Viertel in Brüssel belegen.

Zum
Zeitpunkt seiner Ermordung fanden Protestmärsche in mehreren
Hauptstädten der Welt statt und an einigen Orten wurde die lokale
belgische Botschaft sogar angegriffen. Wie gingen die Situationisten
mit der Ermordung von Lumumba um?

Er
ist der einzige Staatsmann, dessen Intelligenz, Mut und
Menschlichkeit wir anerkannt haben. Die Frage ist nicht, ob er, wenn
einmal an der Spitze des Kongo etabliert, nicht wie so viele andere
mit guten Absichten durch die Ausübung von Macht korrumpiert worden
wäre. Es ist sein Ermordung, die ungesühnt ist.

Wir
bitten weder um Verzeihung noch um Entschuldigung bei denjenigen, die
den Mord begangen haben, aber mögen sie mit ihrem Komplizen, König
Baudouin, diesem alberne Wiesel, in den Mülltonnen vergammeln, in
denen die Vergangenheit, die wir nicht mehr wollen, verrottet.

Unmittelbar
nach dem Zusammenbruch der UdSSR haben Sie eine kleine parodistische
Broschüre veröffentlicht: Lettre
de Staline à ses enfants enfin réconciliés de l’Est et de l’Ouest
.
Darin hört man einen selbstzufriedenen Stalin, der aus dem Jenseits
begeistert davon spricht, dass sein Projekt endlich globalisiert
wurde. Können Sie etwas über dieses Buch und Ihre Lektüre über
das Endes des Kalten Krieges sagen?

Das
stalinistische Reich brach unter den Schlägen der Offensive des
Konsums zusammen, die den Westen erobert und sich auf den gesamten
Planeten ausgebreitet hatte. Dem totalitären Ungeheuer beraubt, der
ihm als Handlanger diente, erschien die Freie Welt in der Nacktheit
ihrer Lüge. Die parlamentarische Demokratie, vom Werbemantel des
„Kalten Krieges“ befreit, entpuppte sich bald unter dem Druck des
Finanzkapitalismus als demokratischer Totalitarismus, ähnlich dem
bürokratischen Staatskapitalismus, der schamlos als „Kommunismus“
bezeichnet wurde. Der Stalinismus,
der im Namen des Proletariats eine unbarmherzige Diktatur über
dieses Proletariat begründete, war
zum Vorbild
für ein politisches Patronat geworden, gezwungen, den Forderungen
des internationalen Kapitalismus nachzukommen.

2009
haben Sie ein Vorwort für die Neuausgabe des 1912 erschienenen Les
Libertins d’Anvers

des bekannten flämischen Schriftsteller und Sozialkritiker Georges
Eekhoud
aus dem 19. Jahrhundert verfasst, dieses beschäftigt
sich mit der von Loy Pruystinck geleiteten „Sekte“ der Täufer
aus dem 16. Jahrhundert. Genau wie bei Eekhoud war Ihre
Gesellschaftskritik immer mit der Kritik der organisierten Religion,
insbesondere der Kirche, verbunden. Erklärt dies Ihr anhaltendes
wissenschaftliches Interesse an der Geschichte der mittelalterlichen
Ketzer?

Es ist weniger die
Geschichte, die mich interessiert, als vielmehr die Linie des
Widerstands gegen Unterdrückung, die Jahrhunderte durchzieht und bis
heute dieses paradox zeitlose Gefühl der Freiheit aufrecht erhält.
Es ist auch die Zeitlosigkeit der Lüge, die angenehm als eine Lüge
anzuprangern ist, derer sich keine Macht veräußern kann.

Auf der SI wurde viel Tinte
verschüttet, und Sie haben bereits darüber gesprochen. Beschränken wir
uns deshalb auf einige Fragen zu Ihrem eigenen Engagement. Die
Situationisten wurden oft als Isolationisten und Exklusivisten
kritisiert – sogar als Elitisten, wie Sie sich in Rienn’n’s Finis
behaupten – , die eher in avantgardistischen Milieus von Künstlern und
Intellektuellen zu Hause sind als in denen der städtischen
Arbeiterklasse. Dennoch war die SI in ihrem Ruf nach proletarischer
Revolution immer eindeutig. Könnten Sie näher darauf eingehen?

Einer
der Fehler der SI war ihr Intellektualismus, der
Gedanke, dass eine Idee einen zum Glück der Massen (wo sie selbst
nicht ist) führen kann.
Die Gilets Jaunes haben mich nicht mehr gelesen als die Eroberer der
Bastille Diderot, Rousseau und Voltaire. Wen interessiert das? Sie
werden sich auf ihre eigene Art und Weise und in ihrem eigenen Tempo
ihres Handelns und ihrer potenziellen Stärke bewusst. Für
mich in meiner Ecke, ist es ein Trost, diese alte Welt, die ich seit
meiner Kindheit verabscheut habe, aufzulösen und zugrunde gehen zu
sehen!

Einer
der wichtigsten Beiträge der SI lag in ihrer systematischen Kritik
des Warenfetischismus und des Spektakels. In einer Zeit der
schrittweisen Privatisierung von allem – von Bildung und Forschung
über das Gesundheitswesen bis hin zum öffentlichen Verkehr –
spielt sich immer mehr Leben online in sozialen Medien ab, welche
korrupten Technologiegiganten gehören, die unsere persönlichen
Daten sammeln, speichern und verkaufen, kurz gesagt: Was kann man in
einer Zeit, in der soziale Beziehungen mehr denn je durch Bilder und
Darstellungen vermittelt werden, vom situationistischen Projekt
lernen?

Der Gedanke, der den Radikalismus vom Mai
1968 nährte, macht immer noch langsam Fortschritte. Man muss
bedenken, dass es um nichts weniger ging, als darum, eine
selbstverwaltete Gesellschaft zu schaffen, in der die Versammlungen
der direkten Demokratie dem Staat, dem Beschützer der Ausbeuter und
dem Unterdrücker der Ausgebeuteten, ein Ende bereiten würden. Das
Bündnis der kommunistischen Partei und der Regierung, das auch aus
dem Aufstieg kleinkarierter linker Führer hervorgegangen ist, hat
damals den revolutionären Elan gebrochen.

Dass es unter den Gilets Jaunes keine
Führer gibt und dass nur durch die Billigung der Versammlungen ein
Sprecher zugelassen wird, stellt eine deutliche Verbesserung
gegenüber der Besetzungsbewegung von 1968 dar.

Die
Arbeit der SI und insbesondere ihre Kritik an der „Kunst“
wurde oft falsch dargestellt oder in Abgrenzung zu ihrer
ausdrücklichen Absicht, Marx ‚antikapitalistische Kritik zu
erweitern, gelesen. Die Hauptzeitschrift der SI, die internationale
situationniste
,
war mit Zitaten aus den Arbeiten von Marx gefüllt. In Ihren Memoiren
von 2008 weisen Sie darauf hin, wie die Situs zum ursprünglichen
Marx und Fourier zurückkehrten, während einige in der Linken über
die großen Männer des Augenblicks schwärmten (Mao, Castro).

Heute
gewinnt Marx, sowohl der Mann als auch sein Werk, mit der
Veröffentlichung einer Reihe neuer Biografien
und in jüngster Zeit sogar eines vielgelobten biografischen
Films
über Marx als jungen Revolutionär wieder an Popularität.
Was halten Sie von diesem erneuten Interesse?

Der Film über den jungen Marx ist Teil dieser spontanen Säuberung
eines Marx, der viel zu lange von sozialistischen und bolschewistischen
Lehren karikiert wurde. Das Zwielicht der Götzenbilder bietet jenen ein
zweites Leben, aus denen unsere Lebensverachtung Statuen gemacht hat.

Die
Linke wurde oft für ihre Ablehnung der Automatisierung kritisiert.
Alex Williams und Nick Srnicek lancieren in ihrem Accelerate
Manifest
einen
umfassenden Aufruf, die technologische Entwicklung in Angriff zu
nehmen, um eine postkapitalistische Zukunft zu schmieden, warnen aber
gleichzeitig vor einem „Techno-Utopismus“. Auch Sie haben die
Idee kritisiert, den technischen Fortschritt als Allheilmittel zu
betrachten, dieses könne mit Leiden und Langeweile enden. Können
Sie das erklären?

Ich habe besonders die
Kluft zwischen menschlichem und technischem Fortschritt
hervorgehoben. In ein paar Jahrtausenden sind wir vom Speer zu
Raketen übergegangen, aber zwischen einem Bauern aus der Bronzezeit
und einem Arbeiter aus Saint-Nazaire [dem größten französischen
Hafen und Produktionsort an der Atlantikküste] würde man vergeblich
nach großen Veränderungen in der Prekarität des Daseins, der
Notwendigkeit zu arbeiten, der Angst, der Notwendigkeit,
wettbewerbsfähig zu sein, der Angst, seinen Lebensunterhalt zu
sichern, dem Gehorsam gegenüber jenen Meistern, suchen, die auch
schlechter überleben als die Fürsten der Vergangenheit. Der
technische Fortschritt hat nur die unmenschlichen Bedingungen
gemildert, die unsere Geschichte zur Müllhalde der Barbarei gemacht
haben.

Das
ultimative politische Ziel der späten SI war eindeutig. In einem
Stück
proklamiert: „bleibt doch ein Zentralpunkt übrig, bei dem
wir
uns schmeicheln, verbissen eine ‘Gesinnung des XIX. Jahrhunderts’
zu behalten. Die Geschichte ist noch jung und das proletarische
Projekt einer klassenlosen Gesellschaft, obwohl es einen schlechten
Anfang hatte, ist immer noch eine radikal neuere Fremdheit als alle
Erfindungen der Molekularchemie bzw. der Astrophysik, als die
Milliarden Ereignisse, die am laufenden Band vom Spektakel fabriziert
werden. Trotz unseres ganzen ‘Avantgardismus’ und ihm zum Dank
ist das die einzige Bewegung, deren Rückkehr wir wünschen.“

In
ihrer antiautoritären Haltung, die sich vor einer von den Parteien
dominierten Organisierung scheut, blieb das tatsächliche politische
Programm der SI zugunsten mehrerer Arbeiterräte, die von direkter
Demokratie geprägt waren, auch in Bezug auf die Versammlung und den
organisierten Kampf zielstrebig offen. Sie haben schon immer
Basisinitiativen unterstützt, aber welche Zukunft sehen Sie für
einen großflächigen Syndikalismus mit seiner beeindruckenden
Geschichte? Ich denke da zum Beispiel an die goldene Zeit der
Industrial
Workers of the World
(IWW).

Die
Bewegung der sich selbst verwaltenden Versammlungen, die sich heute
abzeichnet, ist das Erbe aller Kämpfe um Emanzipation, die die
Geschichte erschüttert haben. Wo sie aufgehört haben, wo sie
niedergeschlagen wurden, werden sie wieder aufgenommen und, ohne auch
nur Sieg oder Niederlage zu erwähnen, werden sie ohne Unterbrechung
von vorne beginnen, genau wie das Leben das sie inspiriert.

Sie
waren immer sehr vorsichtig in Bezug auf Zynismus und Pessimismus.
Das beliebte kleine Heft, das Sie 1995 veröffentlicht haben A
Warning to Students of All Ages
,

endet mit folgender Bemerkung: „Man lebt nicht so lange wie
erwartet, wenn man seine Fähigkeiten nicht voll entfaltet.“ Ihr
letztes Buch, Propos
de table
, präsentiert eine
Sammlung von temperamentvollen Überlegungen zum Leben im Moment.
Erläutern Sie dies.

Die
Existenzkrise, welche im Zentrum der gegenwärtigen sozialen Krise
steht, unterstreicht die Bedeutung der Individuen als Subjekte im
Gegensatz zu den Objekten, die sie für Staat und Wirtschaft sind.
Was als Verdinglichung bezeichnet wird, ist die Umwandlung eines
Lebewesens in einen Gegenstand, eine Ware, einen Umsatz, eine
Statistik, eine Profitrate. Langfristig ist diese Verachtung nicht
auszuhalten. Das Subjekt rebelliert gegen die Sache, auf die man es
reduzieren will. Es behauptet ein echtes Leben.

Spiel,
Phantasie und Selbstversuche spielen bei Ihrer kritischen Arbeit eine
zentrale Rolle. Sie sehen sie als unverzichtbares Werkzeug, um der
spektakulären Kolonisierung des Alltags in den Konsumgesellschaften
zu widerstehen und sie letztendlich zu verdrängen, aber auch als
notwendiges Gegenmittel, gegen die in einigen der alten
linksrevolutionären Parteien gepflegten spartanischen Kultur.
Welchen Platz können Humor und Verspieltheit in einem zukünftigen
linken Projekt einnehmen?

Der
festliche Charakter einer Protest- oder Aufstandsbewegung ist ein
Zeichen guter Gesundheit. Es ist keine passive Party, keine
Unterhaltung, kein Hobby, wie De Gaulle dachte, ein Getränk, das
früher oder später bezahlt werden muss. Es ist die Manifestation
einer Lebensfreude, die sich unaufhörlich ausbreiten und
wiederbeleben muss. Wenn die Party aufhört, wird sie eine
Beerdigung; sie gräbt ihr eigenes Grab.

Lassen
Sie uns dort enden, wo das
Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen
begann: Wie soll man leben? Vor mehr als einem halben Jahrhundert
haben Sie geschrieben: „Alles beginnt mit Subjektivität, und dort
hört nichts auf. Heute weniger als je zuvor. Von nun an wird der
Kampf zwischen Subjektivität und deren Verschlechterung den Umfang
des alten Klassenkampfs erweitern.“ Was ist mit der Revolution des
Alltags angesichts eines immer weiter verbreiteten und alles
verzehrenden Spektakels?

Das Spektakel ist nach wie vor dominant, löst sich aber nach allen Seiten auf – es ist wahr, dass die mediale Lüge nicht gerade unbeholfen versucht dagegen vorzugehen. Das Leben ist weit davon entfernt, souverän zu sein, aber es entspringt unvorhersehbar dort, wo wir es am wenigsten erwarten. Dort ist auch die wahre Guerilla, mit ihren Waffen die nicht töten.

taken from here

Der Beitrag Über Entfremdung, die Situationisten und die alltägliche Revolution erschien zuerst auf non.copyriot.com.


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