"Das
Proletariat wird durch seine eigene Natur als lohnabhängige und
ausgebeutete Klasse in den Klassenkampf geworfen, ohne dass es Lektionen
von irgendjemandem bedarf; es kämpft, weil es überleben muss. Wenn das
Proletariat sich als bewusste revolutionäre Klasse konstituiert, also
als Gegenpol zur Partei des Kapitals, muss es sowohl die theoretischen
als auch die praktischen Erfahrungen des Klassenkampfes und seiner
Geschichte aufnehmen. Nur so lassen sich unvermeidliche Fehler
überwinden, die begangenen Fehler kritisch korrigieren und die
politischen Positionen - anhand einer Bewusstwerdung der eigenen
Defizite oder blinden Flecke - stärken. So lässt sich das Programm des
Proletariats vervollständigen. Kurz gesagt, geht es darum, die noch
nicht gelösten Probleme zu lösen: d. h. aus den Erkenntnissen, die uns
die Geschichte selbst hinterlassen hat, zu lernen.
Und dieses Lernen kann nur in der Praxis des Klassenkampfes erfolgen, in
der Praxis der verschiedenen revolutionären Affinitätsgruppen und der
verschiedenen Organisationen des Proletariats."
Agustín Guillamón. Proletariat und soziale Klassen heute (2013)
Verschiedene Schwächen und Widersprüche, wie auch der ideologische
Ballast und unterschiedliche praktische Fehler, durchdrangen die reale
Bewegung, die während den letzten Oktobertagen dieses Jahres Ecuador
erschütterte. Dazu zählen: Der Mangel an Radikalität und Autonomie
gegenüber dem kapitalistischen Staat, der Dialog und die Verhandlungen
mit der Regierung, die Forderung nach Vermittlung der UNO, die Spaltung
innerhalb der indigenen Bewegung zwischen einigen Führungskräften und
der Basis, der Pazifismus einiger Akteur*innen der Bewegung, die
Einstellung der Mobilisierungen im Zuge der Rücknahme des
Treibstoffdekrets, der Ruf nach Neuwahlen, die Abwesenheit einiger
proletarischer Sektoren, die Anwesenheit opportunistischer Politiker,
die in der Hitze des Gefechts versuchten ihre politische Karriere
anzukurbeln, die nationalistische und populistische Diskurse und
Symbole, der Mangel an Klarheit was Organisation und offensive
Strategien angeht. Trotz allem, sahen wir in Ecuador, während den 11
Tagen der Unruhe, eine wahre proletarische Revolte mit aufständischen
Tendenzen, die es schaffte den bürgerlichen Staat herauszufordern und zu
einem Rückzug zu bewegen. Die Bewegung tat, was getan werden konnte,
was die wirklich existierenden Kräfte zu tun erlaubten, nicht mehr und
nicht weniger. Konkret heißt das, dass die letzten kapitalistischen
Sparmaßnahmen bzw. der "paquetazo" der Regierung Morenos, d. h. das
Dekret 883, teilweise abgeschafft wurden. Dies wurde auf den Straßen,
Tag für Tag und Nacht für Nacht erkämpft. Und, wie Marx sagte, ein
Schritt vorwärts der realen Bewegung ist mehr wert als ein dutzend
Programme.
Der Teilsieg vom 13. Oktober (der aufgrund unserer Toten und dem
Fortbestehen einer Regierung von Dieben und Mördern mitsamt ihren
verheerenden Arbeitsreformen, einen bitterer Nachgeschmack hinterlässt)
war das Ergebnis aller direkten Aktionen der Massen seit dem 3. Oktober:
Regierungsinstitutionen, Ölquellen, Autobahnen wurden eingenommen,
Demonstrationen und die sogenannten „Topfschlag-Proteste“ (cacerolazos)
organisiert, Streikposten und Barrikaden errichtet, Geschäfte
geplündert, Polizeiregimente und Panzer abgefackelt, Polizisten und
Militärs gefangen genommen und festgehalten, der Präsident war
gezwungen, nach Guayaquil zu fliehen und in der Hauptstadt, dem
Epizentrum des Generalstreiks, wurde die Kommune von Quito errichtet. In
11 Tagen wurde mehr erreicht als in den letzten 11 Jahren. 11 Tage lang
war ein partieller, flüchtiger, prekärer aber realer Bruch mit der
kapitalistischen Normalität zu beobachten, insbesondere innerhalb der
Proteste selbst: Anstelle von Lohnarbeit, Warenverkehr, Privateigentum
und Geld, standen Solidarität und Kostenlosigkeit (in den Sammelzentren
und den „Volksküchen“). Diskussionen und kollektive
Entscheidungsfindungen in den Vollversammlungen standen ebenfalls auf
der Tagesordnung, genauso wie die mutige Selbstverteidigung auf den
Barrikaden gegen die brutale Unterdrückung durch die uniformierten
Wachhunde der Reichen und Mächtigen. Kurz gesagt, während den 11 Tagen
der Revolte, haben die Ausgebeuteten und Unterdrückten einen freien Raum
des Kommunismus und der Anarchie geschaffen und gelebt; ein spontaner,
chaotischer, widersprüchlicher, lokal begrenzter, kurzlebiger, aber
echter Freiraum. All dies war keine Kleinigkeit, es war ein historisches
Ereignis mit weltweitem Echo, wenn man bedenkt, dass die proletarischen
Massen auf dem Land und in der Stadt der "Mitte der Welt" so viele
Jahre lang geschlafen haben oder inaktiv waren und es endlich nicht mehr
sind. Sie explodierten wie Vulkane und sind immer noch glühend heiß.
Und die autonomen Antikapitalist*innen, die als Bestandteil der
proletarischen Massen an den Kämpfen teilnahmen, ebenfalls.
Auch die Toten und Verletzten durch den Staatsterrorismus sind keine
Kleinigkeit. Es waren keine "Unfälle", es waren Verbrechen des Staates.
Wir werden weder vergeben noch vergessen! Über die Toten zu schweigen
oder die Morde des Staates kleinzureden, wie es einige rechte und sogar
linke Akteur*innen tun, ist zynisch und zeugt von Respektlosigkeit
gegenüber den Angehörigen und den Genoss*innen die ihnen nahe standen.
Das Mindeste, was es jetzt, nach der Zuspitzung des Klassenkampfes,
braucht, ist: Solidarität mit den inhaftierten Genoss*innen und den
Familien der gefallenen Genoss*innen, ein entschlossenes Anprangern des
Staatsterrorismus und der Regierung, die in diesem Moment gezielt gegen
Mitglieder*innen sozialer Organisationen vorgeht, die am Streik
teilgenommen haben. Es gilt ebenfalls wachsam zu bleiben um neue,
verschleierte und „angepasste“ Sparmaßnahmen zu verhindern (ein
allfälliges neues Dekret beispielsweise), oder um sich gegen den Beginn
der Privatisierungen zu wehren. Auch die für Ende dieses Monats
angekündigten Mobilisierungen gegen die noch immer gültigen
Flexibilisierungs-/Prekarisierungs-Arbeitsreformen dürfen nicht
vernachlässigt werden und, was ebenfalls wichtig sein dürfte, die
spontane Organisierung, die während den sozialen Unruhen entstand,
sollte aufrechterhalten werden, damit die gesammelten Erfahrungen nicht
untergehen und die Bewegung sich mittel- und langfristig radikalisieren
kann und sich eine autonomen und revolutionären Perspektive
verallgemeinern kann. In diesem Sinne hat der Kampf erst begonnen. Es
geht weiter. Bis zum Ende. Denn es geht nicht darum, mit dem kleinsten
Übel zu überleben, sondern wirklich zu leben. Und es geht nicht darum,
die Herrschenden auszuwechseln, sondern die gesamte Herrschaft
loszuwerden.
Es ist die begrenzte, mangelnde Befriedigung der konkreten Alltagsbedürfnisse und nicht irgendeine Ideologie, die die Arbeiterklasse dazu bringt, sich gegen die Herrschenden und den Staat aufzulehnen. Im Inneren dieses Kampfes entstehen und entwickeln sich bewusste, organisierte und aktive Minderheiten, die bestrebt sind, die Erinnerung, die Lehren und die schwarz-rote Flamme der proletarischen Revolution am Leben zu erhalten. Es ist eine Sache, revolutionär zu sein und sich im wirklichen und widersprüchlichen Klassenkampf "die Hände schmutzig machen", dort zu sein, wo es brennt, die Solidarität und den Kampfeswillen unserer proletarischen Klasse bei eigenem Leibe zu erleben, persönliche Streitereien oder Konflikte unter verschiedenen Gruppen beiseite zu legen, mit selbständigem und kritischem Geist, wie auch mit Demut, ohne ideologische Vorurteile, so viel wie möglich beizutragen und zu lernen (sowohl auf den Barrikaden als auch in den Sammelzentren und Vollversammlungen). Eine ganz andere Sache jedoch, ist es, von der Bequemlichkeit des eigenen Bettes, hinter dem Bildschirm, dem Schreibtisch oder vom Bürgersteig aus, sich Revolution auf die Fahne zu schreiben und im Einklang mit eurozentristischen/rassistischen, pazifistischen, die Rolle der Arbeiter*innen affirmierenden und puristischen Ideologien, sich selbst als "Kommunist*in" und "Internationalist*in" zu inszenieren. Genauso Ablehnungswert ist die "marxistisch-leninistisch-maoistische" Ideologie mit ihrer "Avantgarde" und auch die "anarchistisch"- nihilistische bzw. die "mir-doch-alles-scheissegal" Ideologie. Wie auch immer. Die soziale Revolution entsteht nicht durch Ideologien, vielmehr ist sie immer eine reale oder materielle Tatsache und daher diffus und widersprüchlich. Dies muss man im Hinterkopf behalten während man Seite an Seite mit den Massen und anderen darin aktiven Minderheiten kämpft, denn wir müssen gegen die Klassengegner*innen zusammenhalten wenn der soziale Krieg ausbricht, wie er hier ausgebrochen ist.
Selbstverständlich sind wir hier und überall noch weit entfernt von
der kommunisch-anarchistischen Weltrevolution. Die Bedingungen und
Kräfte dafür sind noch nicht gegeben, aber irgendwo muss man nach so
langer historischer Lethargie ja beginnen. Der aufkommende und
gegenwärtige proletarische Kampf in Ecuador (die indigenen Massen sind
Teil der proletarischen Massen, sie sind Teil des Landproletariats, sie
sind nicht "ein nicht ausgebeuteter Sektor". Es gilt auch nicht zu
vergessen, dass die proletarischen Massen der Städte sich ebenfalls an
den Kämpfen beteiligten) ist Teil einer ganzen internationalen Welle von
proletarischen Kämpfen (Haiti, Hongkong, Frankreich, Algerien, Irak,
etc.). Damit endet langsam ein historischer Zyklus der Konterrevolution,
der durch Sparmaßnahmen und staatlicher Repression charakterisiert war,
und ein neuer Zyklus des Klassenkampfes verbreitet und intensiviert
sich inmitten der gegenwärtigen kapitalistischen Weltkrise.
Die Rolle der revolutionären Minderheiten besteht wie immer darin,
die Entwicklung der proletarischen Autonomie zu fördern und den Bruch
mit dem kapitalistischen System, in jeder Hinsicht zu vertiefen, d.h.
dazu beizutragen, dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten, sich mit
eigener Kraft vollständig vom Kapital und dem Staat befreien können. Es
gilt auch das unveränderliche Programm der sozialen Revolution, das
inmitten der historischen Kämpfe des Weltproletariats geschmiedet wurde,
wieder aufzugreifen, um es ein für allemal Wirklichkeit werden zu
lassen. Zu diese Programm gehört die Abschaffung und Überwindung von:
Privateigentum, Lohnarbeit (in all ihren Formen), Wert, Geld, Klassen,
Staat, Markt, Nationen, „Rassen“, Geschlechter und allen anderen Formen
der Trennung und der Unterdrückung gegenüber Mensch und Natur, die
verhindern, dass eine echte Gemeinschaft in echter Freiheit leben kann.
Aber all das ist nur möglich, wenn man an den realen sozialen Kämpfen
teilnimmt, wenn man sich die Hände schmutzig macht, wenn man Fehler
macht, Erfolge feiert, entschlossen voranschreitet und den Widerspruch
zwischen Fortschritte, Rückschläge, Siege und Niederlagen aushält. Man
muss aktiver und fester Teil der revoltierenden Masse sein, der
ausgebeuteten und unterdrückten Klasse, die für ihre materiellen
Bedürfnisse kämpft. Nur aus den sozialen Kämpfen heraus und nicht aus
der Ideologie, der Bequemlichkeit oder dem Zynismus, lassen sich
empirische und theoretische Erkenntnisse gewinnen, die uns helfen können
unsere Schwächen und Widersprüche zu überwinden, immer mit der klaren
und unerschütterlichen Perspektive im Kopf, die Revolution bis zum Ende
zu bringen, d.h. bis zum Sturz dieses ganzen Systems der Ausbeutung, des
Elends und des Todes. Deshalb sagen wir aus dem Herzen des Widerstandes
heraus und unsere Würde hochhaltend, eine Würde die nur der soziale
Kampf gewährt: für unsere Toten und für unser Leben: keine einzige
Minute des Schweigens, nur ein lebenslanger Kampf! Die Solidarität ist
unsere beste Waffe und wird die Herrschenden wieder zittern lassen!
Einige angepisste Proletarier*innen aus Ecuador.
Für die kommunistisch-anarchistische Weltrevolution!
Aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt von Eiszeit.
Der Originaltext erschien auf: https://proletariosrevolucionarios.blogspot.com/
taken from here
Der Beitrag Ecuador: Eine kurze Bilanz über den proletarischen Kampf vom Oktober 2019 und dessen Perspektiven erschien zuerst auf non.copyriot.com.