Am
vergangenen Donnerstag beteiligten sich um die 1 Million Menschen in
Frankreich an den
landesweiten Demonstrationen gegen die Pläne der Regierung, die
Rentenversicherung zu „reformieren“, sprich das Eintrittsalter zu
erhöhen und die Bezüge zu kürzen. (1) Ausgenommen werden sollen
lediglich die Angehörigen
der Polizei, wie die Regierung unmittelbar vor dem 5. Dezember
erklärte, nachdem auch Gewerkschaftsvertreter der Bullen erklärt
hatten, sich an den Protesten beteiligen zu wollen.
Arbeitsniederlegungen gab es im Wesentlichen im öffentlichen Sektor,
bei der staatlichen Eisenbahn fielen ein Großteil der Züge aus, im
Großraum Paris fuhren kaum Metros, viele Buslinien verkehrten
ebenfalls nicht. Auch im Flugbetrieb kam es zu Störungen. Ebenfalls
umfangreich waren die Arbeitsniederlegungen bei den Lehrer*innen und
den Beschäftigten des Gesundheitswesens, letztere kämpfen schon
seit Monaten für bessere Arbeitsbedingungen und bessere Bezahlung.
Im privaten Sektor kam es kaum zu Streikaktionen, allerdings ruht
seit Donnerstag in der Mehrzahl der großen Erdölraffinerien die
Arbeit, hier sind die Mehrheit der Malocher in der CGT organisiert
und die Belegschaften sind eine der letzten Bastionen der
klassischen, kämpferischen Arbeiter*innenklasse. Zugleich wurden
landesweit Straßen und Verkehrskreisel blockiert, allerdings in weit
geringerem Umfang als zum Vergleich der Anfänge der Gilets Jaunes
Bewegung.
Ein Rückblick auf den ersten großen
Aktionstag und den Angriff auf die neue „Rentenreform“ aus der
Sicht eines Teilnehmers.
Die Streikpostenkette
Ich
hatte meinen Tag wie viele von uns begonnen: Mit der Verteilung von
Flugblättern. Mit den Arbeitskollegen, mit denen wir organisiert
sind, in einer Streikpostenkette inmitten der Nachbarschaft. Es war
eine tolle Zeit. Die Menschen waren sehr aufgeschlossen. Einige
fragten nach dem Zeitplan für die Demonstration, andere erklärten,
warum sie arbeiten mussten. Tee und Kaffee erwärmten unsere kleinen
Körper und die Diskussionen liefen gut. Zu den beliebtesten Themen:
Wann werden die Bullen den Protest angreifen? Nach der Meinung aller: Am Platz der Republik.
Wie viel wirst du verlieren, wenn du das Regierungsprojekt auf deinen Fall anwendest ? (Jeder hatte es testweise durchgerechnet und jeder hatte dabei Einbußen zu beklagen)
Wie kann man die Regierung bremsen und den Privatsektor mobilisieren?
Kurz
gesagt, es war erfreulich und ein
Tag voller Begeisterung, was
bedeutet, dass ein Streiktag
mit mehreren Kollegen immer besser ist als allein BFM (2)
zu sehen, bevor man zur
Demonstration geht.
Wir
nähern uns dem Umzug
Ich
beschließe, mit einer Gruppe von Arbeiter*innen
aus dem Adoma - Haus
aus der Nachbarschaft nach Belleville
zu ziehen. Wir treffen
dort die Leute
der Cantine des Pyrénées (3),
die von der Anhöhe von Belleville
herunterkommen. Es herrscht eine sehr herzliche Atmosphäre. Wir
finden uns mit ein paar Hundert
hinter einem Banner "Belleville Gegenangriff"
ein und
gehen die Rue du Faubourg du Temple
hinunter. Als
wir am Platz der Republik
ankommen, sehen
wir dass unsere
Vorhersagen zutreffend sind:
Der Ort ist von Aufstandsbekämpfungstruppen
belagert,
was keinen Zweifel daran lässt, dass der Staat beschlossen hat, dort
hart zuzuschlagen.
Wir haben
deshalb einen
langen Abstecher zum Ostbahnhof gemacht (4).
Wir
kommen auf dem Platz an und haben das Gefühl, dass es eine sehr,
sehr große Demonstration sein wird. Es ist 13:30
Uhr, die Demonstration beginnt
erst in einer halben Stunde
und es gibt bereits mehr Leute als bei
der größten
Demonstration, die wir in
diesem
Jahr gesehen haben. Der Boulevard ist sehr prall gefüllt. Menschen
jeden Alters und Geschlechts. Alt und Jung. Wir treffen uns im
Solidaires Block
(5) und die Demonstration ist
bereits sehr, sehr, sehr, sehr massiv, eng
beieinander stehen die Menschen.
So sehr, dass wir uns ein wenig Sorgen machen. Wenn die Polizei
angreift, wird es die Bewegungen der Menge ziemlich schwierig machen.
Dort stehen wir lange Zeit auf
dem Fleck. Zeit, alle unsere
eingesammelten Flugblätter
zu lesen und viele Leute zu treffen. Die Feuerwehrleute sind anwesend
- wir werden noch einmal darüber reden - und klettern auf ein
Gerüst, während sie die Menge anstacheln. Diese reagiert mit ganz
offensichtlich positiver
Resonanz.
Es sind fast
anderthalb Stunden seit
den ersten Zusammenstößen an
anderer Stelle vergangen.
Auch wenn wir uns immer noch nicht bewegt haben.
Es
wird heiß vor dem
Gewerkschaftshaus
Wir
kommen dem Kopf der Demo
näher, und was uns auffällt, ist die Vielfalt der Menschen, vor
allem aber die Masse der Menschen. Der "cortège de
tête" (6)
erstreckt sich fast über den
gesamten Magenta Boulevard. Man muss dazu
bemerken, dass es meiner bescheidenen Meinung nach nicht mehr Sinn
macht von einem "cortège
de tête"zu
sprechen. Der
"cortège de tête"war
eine sinnvolle
Bezeichnung, als es
noch um
mehrere separate Demonstrationsblöcke
ging. Hier und
heute aber sind
die Unterschiede
in der Demonstration
nicht mehr wirklich sehr
augenfällig,
da die Demonstration zu einer einzigen
Ansammlung von Wütenden
geworden ist, die sich
vermischen und vermischen. Selbst Gewerkschaftsumzüge, die
jahrelange mit Tränengas
beschossen
wurden, sehen nicht mehr so aus wie noch
vor 3 oder 4 Jahren.
Wie auch immer, wir kommen zurück zum Zugang des Boulevards nahe der Kreuzung mit der Rue du Château d'Eau. Wir sind ein wenig zurückgefallen, als zu unserer Rechten ein Shiva- Laden (eine Geschäft für Haushaltswaren, das unter anderem für seine besonders sexistischen Anzeigen bekannt ist) im Arsch geht. Fast sofort hagelt es Tränengas und gleichzeitig ziehen große schwarze Wolken von Qualm in unsere Richtung, die von einem Feuer vor dem Gewerkschaftshaus kommen. Viele von uns fragen sich, was los ist. Wir werden sehen, dass es sich um eine große Fertigteilbaustelle handelt, die direkt vor der bourse du travail in Flammen steht.
Wir können nicht genug betonen, wie vorsichtig wir mit dem Einsatz von Feuer sein müssen, dessen Folgen einfach katastrophal sein können. Nun, die Polizei nutzt es aus, um alle mit viel Tränengas zurückzudrängen. Sie nebeln den Magenta Boulevard ein, alle Fluchtwege an der Seite sind von Polizisten besetzt, wir können nur zur Metrotation Jaques Bonsergent zurückkehren, während wir uns unsere Lunge aus dem Leib husten. Es ist immer noch sehr eng und Tausende von Menschen sind mit Schutzausrüstung gekommen. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, wie groß die Demo wirklich ist. Viele Menschen, die nicht kämpfen wollten, bewegen sich rückwärts. Wir werden später erfahren, dass mehrere tausend Menschen am Valmy Kai, wo es nur wenige Zusammenstöße gab, den Ort umgangen haben. (7) Gut für sie, gut für die anderen.
Positionskampf
und Ermüdung auf dem Boulevard Magenta
Wir
beschließen, auf dem Boulevard zu bleiben, aber
es geht nicht wirklich voran.
Offensichtlich sind Banken
sehr begehrt heute.
Einige Leute denken, dass es klug ist, Feuer in
einer der Banken zu
legen, obwohl sie sich in einem Wohnhaus befindet.
Einige Kameraden eilen
herbei, um das Feuer zu löschen.
Danach bleibt es sehr lange beim auf der Stelle stehen. Wir gehen zurück auf den Boulevard und sehen, dass einige Leute bereits auf dem Platz der Republik sind, wo es heftig zur Sache geht.
Auch
wir haben von Zeit zu Zeit Tränengasbeschuss,
aber nicht in vergleichbarer
Intensität. Wir kommen ein
wenig voran, aber der Fluss
der Demo scheint durch die
BRAV (8),
die
sehr präsent sind,
am Kreuzungsbereich
zum Boulevard
Magenta unterbrochen zu werden. Wir haben das kaum
realisiert, als wir
hinter uns
durch ein andere
BRAV Einheit
an der Metro Station Jacques
Bonsergent abgeschnitten werden.
Wir sitzen
in einer Art hinterhältigen
Falle. Die Bullen schubsen uns nicht, sie teilen einfach
den Umzug. Dahinter brandet
der Rest der Demo an.
Dann gingen die Feuerwehrleute, die den ganzen Nachmittag sehr
präsent waren, an die Front, um die Umzinglung
aufzubrechen. Wir stehen
hinter ihnen. Aber wir haben immer noch keinen Zugang zum
Platz der Republik. Und es
gibt einen
neuen Kessel hinter uns. Und
die Demo brodelt, wütet,
damit wir wieder eins sein können und die Bullen sich
verpissen. Geschreie,
Sachen fliegen, die
Feuerwehrleute bauen sich direkt vor den Bullen auf, üben
Druck auf sie aus und die Polizisten geben ihre Positionen auf. Das
werden wir dreimal an diesem
Nachmittag erleben.
Aber
es ist meistens echt nervig.
Wir werden von den Bullen reichlich
gestresst, irgendwann
schaffen wir es, auf den
Platz der Republik zu
gelangen, wo
die BRAVs in der Mitte des
Platzes stehen,
um die Menge zu provozieren. Erfolgreiche Provokation: Sie werden
aufs Übelste beschimpft, von
der Menge auf beeindruckende Weise angegriffen.
Schließlich doch noch eine Demonstration
Es entspannt sich ein wenig und eine CGT Demoblock kommt an, ein Soundsystem an der Spitze, und nimmt die Demo auf eine sehr dynamische Weise mit. Viele von uns stecken seit 14:30 Uhr im Tränengas fest, wir haben es ein wenig satt. Wir würden gerne in Ruhe demonstrieren können, aber offensichtlich will die Polizeipräfektur das nicht und steigert die Anzahl an Provokationen. Es wird gegen 17:00 Uhr dunkel, als wir auf dem Voltaire Boulevard sind. Ich habe noch nie eine so kraftvolle Demonstration nach mehr als zwei Stunden herumstehen gesehen. Und vor allem ist es eine sehr gute Atmosphäre. Viele Slogans, Lieder, die Bullen werden bei jedem Erscheinen ausgebuht und beleidigt. Sie reagieren fast systematisch mit Tränengas (ohne angegriffen worden zu sein). Wie auch immer, vor 10 Jahren wäre es die gewalttätigste Demonstration des Jahres gewesen, aber mittlerweile ist das alles ja ein alter Hut. Wir sind motiviert und sehen, dass die Gilets Jaunes sehr, sehr präsent sind. Dennoch keine Marseillaise- oder sonstigen „patriotischen“ Gesänge, da die Gewerkschaftskräfte so präsent sind. Im Grunde genommen radikalisieren sich die Sprechchöre ein wenig und das ist nicht schlecht. Wir können allerdings die Verwendung der Parole "Macrons Nutten", der sich gegen die CRS richtet, nur bedauern. Huren verdienen es wirklich nicht, mit den CRS in einem Atemzug genannt zu werden.
Ankunft am Platz der Nation und Bullenüberfall
Nach einer eher ruhigen Demo ab dem Platz der Republik kommen wir an unser Ziel, aber auf dem Platz der Nation ist die Lage sehr angespannt. Die BRAVs sind wieder auf dem Platz platziert, deutlich sichtbar, es gibt so viele Polizisten, dass es ziemlich beeindruckend ist. Natürlich greifen sie direkt an. Sie schicken Offensivgranaten in Kopfhöhe. Prügeln wie die Irren. Ich muss zugeben, als ich das sah, war ich nicht allzu gerne hier. Seit 10 Uhr in der Kälte zu sein, hilft auch nicht wirklich weiter und das Risiko einzugehen, verletzt zu werden, war sehr hoch. Und wir haben dann auch mehrere Verletzte gesehen. Es waren noch Leute da, als ich ging. Ich ging dem Rest der Demo entgegen und sah die Ankunft der Gewerkschaften, die gerade von der Polizei verarscht worden waren. Der Ordnungsdienst der CGT war übrigens sehr sehr gut ausgerüstet.
Aber das Beeindruckendste dieses Tages war vor allem die Menschenmassen, die sich in den Straßen von Paris einfanden. Das ist nur der Anfang und es wird nicht ausreichen, um dieses berüchtigte Gesetz zu stoppen, aber es ist ein guter Anfang. Und vor allem war die Streikbeteiligung sehr, sehr hoch. Und das ist das Wichtigste.
Fussnoten
(1) Zu den Details der „Rentenreform“ siehe B. Schmids Bericht auf Telepolis https://www.heise.de/tp/features/Immense-Proteste-gegen-Macrons-Renten-Kuerzungsplaene-4607063.html
(2) BFM TV (Akronym von Business FM) ist ein privater französischer 24-Stunden-Nachrichtensender mit Sitz in Paris
(3) Selbstorganisierter Ort des Klassenkampfes, hier finden Treffen statt und es gibt preiswerte Gerichte auf Solidaritätsbasis für alle. http://www.zones-subversives.com/2019/02/l-experience-de-la-cantine-des-pyrenees.html
(4) Der Gare de l'Est ist der Ausgangspunkt der Gewerkschaftsdemo am 5. Dezember in Paris
(5) Zusammenschluss der unabhängigen Gewerkschaften, links undogmatisch, geht Bündnisse mit den Autonomen und Anarchisten ein.
(6) Der cortège de tête bildet seit der Bewegung gegen das loi travail 2016 die Spitze der Demo. Früher liefen die CGT oder linke, dogmatische Gruppen an der Spitze der entsprechenden Demos in Paris. Seit 2016 finden sich hier Autonome, Antifas und alle Sonstigen ein, die bei den Demos ganz gerne mal ein Tänzchen mit den Bullen wagen oder die Scheiben von Banken und Immobilienbüros einwerfen. Manchmal sind es nur ein paar hundert Leute, manchmal aber auch ein paar Tausend. Anfänglich hatte der Ordnungsdienst, vor allem der CGT, noch versucht, gegen diesen cortège de tête mit Gewalt vorzugehen. Dies stieß allerdings auf handfeste Gegenwehr und löste bei der eigenen Basis massiven Unmut aus. Seitdem gehört dieser Frontblock eigentlich zu jeder wichtigen Demo in Paris, auch wenn er manchmal aus taktischen oder politischen Gründen nicht an der Spitze der Demo läuft oder sich auf mehrere Blöcke verteilt.
(7) Im Vorfeld der Demo gab es einen Aufruf, sich der Kontrolle und den zu erwartenden Angriffen der Bullen zu entziehen, indem man von der vorgegebenen Route abweicht. Tausende folgten diesem Aufruf und erreichten als erste und ohne größere Probleme in großen Gruppen den Endpunkt der Demo am Platz der Nation.
(8) Gefürchtete Motorradbullen Sondereinheit, 1987 aufgelöst, nachdem am 6. Dezember 1986 zwei Bullen der Einheit Malik Oussekine nach einer Student*innendemo in einem Hauseingang zu Tode geprügelt hatten. Wurden Ende 2018 neu aufgestellt, nachdem es bei den ersten Demos der Gilets Jaunes zu schweren Krawallen kam.
Anmerkungen
Dieser
Bericht erschien am 6.12.2019 auf Paris Luttes Info,
die Übersetzung erfolgte frei und sinngemäß durch Sebastian
Lotzer. Sebastian Lotzer veröffentlichte 2017 'Winter Is
Coming', eine kommentierte
Textsammlung über die Bewegung gegen die „Reform der
Arbeitsgesetzgebung“ (loi travail),
sowie über die Kämpfe und Revolten in den französischen Vorstädten
beim Wiener Verlag bahoe books.
Im gleichem Verlag erschienen seine Romane 'Begrabt mein
Herz am Heinrichplatz' und 'Die
schönste Jugend ist gefangen'