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NEIN!

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Nein!

Man hat mit Ja zu stimmen, egal welche Frage gestellt wird. Jean-Claude Junker

Vor Jahren, als die Welt noch langsam war und WWW noch weltweites warten hieß, musste man sich mühen, um den Wahn zu sehen, das Irrenhaus, in dem wir sitzen. Nicht Formans Kuckucksnest – wer dort die Irren sind, ist klar: ein gefährliche, gewalttätige Sekte in weissen Kitteln à la Doktor Seltsam, die in der Tradition Mengele elektrotollschocken –, nein, es geht um das Irre wenn man quer durch die Sender zapt, Jungelcamp, Freiheit im Stau mit dem Auto, KursAnsage vom BörsenHeini. Das Irre, wenn man realisiert, dass Menschen das wirklich leben. Das Richtige im Falschen bis das Falsche hinter einer potemkinschen Wand aus ReklameSprüchen verschwindet. Abenteuer und Emotion pur am Fernseher statt JustInTime und Ratenzahlung. Man musste sich mühen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass die Epoche nach dem 2. Weltkrieg zu einer gigantischen bunten Sublimierung des Grauens geworden war.

Heute ist das nicht mehr schwierig. Man muss nicht mehr graben, um aus einem Querschnitt durch die Schichten dieses Wahns den Befund einer schweren kollektiven Erkrankung zu ziehen. Heute ist die Politik, der Quoten- und Qualitätsjournalismus, die Wirtschaft und so gut wie jeder Bürger so entwaffnend offen und ehrlich in der Einschätzung der Lage, dass jeder das sehen kann und dass weitere Äusserungen überflüssig werden.

It is all at your fingertips, stupid. 

Jenes Foto zum Beispiel, das von den Mächtigen nach den Morden an den Redakteuren von Charlie Hebdo angefertigte wurde. Sie ließen sich ablichten, als befänden sie sich voller Anteilnahme inmitten der schockierten Menge. Die Mächtigen, denen die Meinungsfreiheit der Toten so lieb ist, während sie die der Lebenden abwürgen. Sie sorgen ja dafür, während sie ihre Trauerreden halten, dass – um nur ein paar aktuelle Beispiele zu nennen – in Spanien heute jede Teilnahme an einer Demonstration zu einem unkalkulierbaren finanziellen Risiko wird, dass in Grossbritannien jegliche Verschlüsselungstechnologie für den Bürger verboten wird, während in Deutschland Gesetzgebungsverfahren anstehen, die jeden staatskritischen Protest in ein engmaschiges Netz von Totalüberwachung und Repression einspannen. Diese DemokratieSpieler stehen untergehakt ohne Scham mit solchen, die jedes offenes Wort mit Mord vergelten, und lassen sich vom Quoten- und Qualitätsjournalismus darstellen, als fände das alles tatsächlich inmitten der hunderttausend trauernden Demonstranten statt. Diese Darstellung ging um die Welt. Die Mächtigen und das Volk eins. Denn verschnitten wurde das Bild der Mächtigen mit den Bildern von den Vielen. Aber es war eine Inszenierung. Andere Aufnahmen zeigen, dass die Beileidskundgebung abgeschottet in einer Pariser Seitenstrasse stattfand, fern jedes suggerierten Kontaktes, hochsicherheitsabgesichert. Eine Phalanx abgeklärter PolitProfis, im Marsch auf die tausend Augen der Kamera, aufgenommen und wieder ausgespieen, die toten Gesichter, die erstarrten Masken, das Surrogat.

Selten hat ein Ereignis so überaus deutlich gezeigt, ohne Scham oder Verstellung, dass dieses Politische eine Perversion ist: Der MassenMord an denen, die die Meinungsfreiheit tatsächlich beanspruchten und dafür ermordet wurden, wird gnadenlos von denen ausgebeutet, die ihr politisches Branding zu optimieren haben, um dabei tatsächliche Meinungsfreiheit in ein Ghetto zu verbannen, in dem jede Äusserung erst der Ordnungsbehörde zur Genehmigung vorgelegt werden muss. Der Konsument und Verbraucher am heimischen Output des Quoten-und Qualitätsjournalismus wird dabei bestens von denen, die ihm diese Inszenierung vorführen, darüber informiert, dass es eine Inszenierung ist. Welche eine Groteske. Wenn die Frankfurter Schule noch dachte, die Kulturindustrien müssten sich bei der Produktion ihrer Inszenierungen betreffend der angewandten Mechaniken ein wenig bedeckt halten, hat man heute keine Problem mehr damit, dass alle sehen, wie die Bühnenarbeiter die Kulissen während der Aufführung hin und her schieben.

Alternativlos hinter diesem Spiel strukturierend das Techno-Ökonomische. Restlos jede Lebensäußerung kommodifizierend und in seinem Namen, und niemals im Namen der Menschen und des Lebens, einen Strom erzeugend vom Trikont, seit Jahrhunderten, in die Kassen des Nordens, der sich zunehmend immer mehr nur noch mit Mauern zu helfen weiss gegen seine Opfer, deren Slum im Notfall mit der Bombe dezimiert wird.

Das Ausmaß des Leidens und Versagens, dass das techno-ökonomische Diktat im Verbund mit der inszenierten Politik errichtet, lässt sich in einer einzigen Zahl fassen: 2 Milliarden! Laut WHO – wir sehen, jeder bekommt es von denen gezeigt, die es anrichten – ist das die Anzahl der Menschen auf diesem Planeten, denen ausschliesslich fäkal kontaminiertes Wasser zur Verfügung haben. Gab es jemals in der biologischen, sozialen, kulturellen Evolution des Homo Sapiens mehr Individuen, die unter solchen Umständen zu leben hatten? Soweit hat es diese Kultur gebracht, dass beinahe jeder dritte Mensch Scheisse fressen muss – wo gerade Wasser, als grundlegendes Lebens-Mittel unbedingtes Mittel zum Leben ist, um in der Lage zu sein, ein Mensch zu werden, der seine Menschenrechte einfordern könnte. Mit dieser einen Zahl ist gesagt, dass das Techno-Ökonomische Einem von Dreien die aller notwenigste physische Grundlage nicht zu geben bereit ist, derer es bedürfte, um ein Mensch mit Rechten zu sein. Das ist der Wahnsinn: Ein sich ausbildender planetarer Gulag, in dem die Besserverdienenden sich in Festungen verbarrikadieren, wo wir dies, gut klimatisiert und bestens mit tausend MineralWasserSorten versorgt, notieren dürfen.

Dass vor diesem Hintergrund die Depression zur SignaturKrankheit unserer demokratischen Inseln der Seeligen wird, ist kein Wunder. Die Depression ist zum Teil Reaktion auf einen scheinbar unaufhebbaren Widerspruch. Dieser Widerspruch, der Wahn, von dem hier die Rede ist, ist die reale Kontradiktion, die das Versagen dieser Kultur anzeigt. Da sich dieser Widerspruch so überdeutlich zeigt und im Gegensatz zur Politik offensichtlich kein Simulacrum ist (genau wie das Techno-Ökonomische), da er also in aller Deutlichkeit Menschen mitten im Leben trifft, findet er einen Wiederhall im Erleben derjenigen, die täglich die Qual mit der Wahl der richtigen TrinkWasserMarke haben. Einen Wiederhall, der als eine permanente unterschwellige Dissonanz unser Leben begleitet und das Seelenleben unweigerlich anfrisst, aus der Balance bringt, am Gewissen nagt und zur Reaktion zwingt – entweder in Form einer Tat, die den Widerspruch ins Bewusstsein hebt oder indem sie ihn als Depression sublimiert zum Ausdruck bringt – als Wunsch diesen Wahn durch den eigenen Tod zu beenden.

Das aber ist auch eine Hoffnung, denn es bedeutet, dass die Widersprüche keineswegs an die Peripherie gedrängt und außer Sichtweite gebracht werden, sondern dass der Widerspruch in unserer Mitte greifbar ist und dass durch die Depression ein Symptom gegeben ist, das auf die eigentliche Krankheit verweist. Man stelle sich mal vor, den Kranken würde klar, dass Ihre Depression nicht ein individuelles Defizit ist, sondern die Folge der Bodenlosigkeit schöner Versprechen und dass der ganze miese Betrug dieser Truman Show nicht durch eine Flucht, sondern nur durch ihre Zerstörung zu beenden ist.   

Zu all diesem bedarf es keiner weiteren Erläuterungen. Die gibt es genug und in großem Variantenreichtum innerhalb des Spektrums des Spektakels. Auf dem Rummelplatz der Analysen und superschlauen Theoriegebilde, dem sich zu widmen einen Aufwand an Energie bedeutet, dass darüber der Wahn gerade wieder aus dem Blickfeld wandert – womit die endgültige Funktion der akademischen Analyse im Kapital heute auch klar ist.

Wenn wir in diesem multipolaren Panopticon sehen, was derzeit in Europa und mit Griechenland passiert, dann kann man als Teil dieser TrauerGroteske dazu nur noch zwei Dinge sagen. Erstens, dass das ademokratische Verhalten der Institutionen – bleiben wir bei diesem Wort als Begriff der Schande – eine Folge des historischen Augenblicks ist, in dem Demokratie möglich schien, vielleicht sogar mehr, und der Reaktion ab den 1970er Jahren, die nur eine ganz bestimmte Demokratie zuließ, die des Kapitals für das Kapital und auf keinen Fall die des Menschen für den Menschen. Es ist die Folge des Aufblitzen einer Möglichkeit und der Reaktion der Reaktion darauf  – in einem Kontinuum aus dem größten Massenmord aller Zeiten heraus, in das Einsetzen einer technologisch-ökonomischen Transformation hinein, die den Menschen tatsächlich zum Verschwinden bringt und ihn durch eine Blackbox ersetzt, deren biologisch-historischen Leiterbahnen am Eingang wie am Ausgang von dieser Transformation immer perfekter manipuliert und ausgebeutet werden. Zweitens, dass es in dieser Situation nur noch ein absolutes Nein geben kann.

Eine Nein, das sich absolut allem verweigert und die Grenze dieser Verweigerung immer weiter und tiefer treibt. Ein endgültiges sich Abwenden. Keine Analysen mehr, kein Protest, keinen Widerstand, nichts. Nur noch Nein, denn alles hat versagt.

Und dabei ist zu erkunden, wie sich Technik, Wissenschaft, alles Wissen, in diesem Nein absoluter Negativität neu manifestieren können. Dabei muss als Voraussetzung subtrahiert werden, was über den Menschen-in-Person hinausgeht. Man muss tatsächlich subtrahieren. Die erste Frage des Nein ist, was bleibt, wenn ich alles streiche? Die Theorien, die Gegenstände des Denkens, Gewohnheiten, die Strukturen des Alltages, Freunde, Liebespartner, die Kunst, das Politische, bis hin zum Leben selbst... Was bleibt, wenn man das denkt? Das ist der Ausgangspunkt.

Denn das ist die nie gestellte Frage nach mehr als einem halben Jahrhundert: Was bleibt, wenn man sieht, wie Mensch, Geschlecht, Rasse, Identität, Ethnie, Kultur und Ökologie, Ökonomie, das Politische usw. usv. aus der empirisch-transzendentalen Dublette hervorgehen und wenn man das subtrahiert – und zwar ganz besonders, wenn man versucht, mit dem Vorgang der Subtraktion die Dublette selbst zu subtrahieren? Man muss heute nicht im Detail auf das eingehen, was hier wie ein Paradox erscheinen muss, aber die geradezu groteske Situation – in Ergänzung der erwähnten Sachverhalte – ist die, dass nach der Prognose über das Verschwindens des Menschen eine gewaltige Fülle an Wissen über die Genese dieses Menschen entstanden ist, das aber gefangen bleibt – in der Akademie des Wahns –, ohne dass es a) zu Konsequenz und Tat führen könnte und ohne dass es b) eben zu der denkwürdigen Frage werden könnte, die dem Spektakel, in das wir verwickelt sind, womöglich das Fundament nimmt. Was bleibt, ist lediglich die Frage, was passiert, wenn man das definitive Nein ausspricht.

Der Beitrag NEIN! erschien zuerst auf non.


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