Nicht viel hat sich verändert, seitdem Jean Baudrillard in einem Artikel zu den Unruhen in den Banlieues im Jahr 2005 davon sprach, dass ein System, das langsam implodiert, keine Chance hat, seine Einwanderer und seine Surplusbevölkerung zu integrieren, die sowohl Produkte als auch grausame Analytiker des Verfalls des Systems sind. Die Risse, die sich in den Pariser Vorstädten auftun, sind nur ein Symptom für die Spaltung eines Systems, das sich mit sich selbst im Krieg befindet. So ist es auch nur folgerichtig, dass die französischen Polizeigewerkschaften in einer Erklärung vom Freitag vom Krieg sprechen, den es gegen schädliche Elemente im Land zu führen gilt.
War der tödliche Schuss, der Nahel traf und als Symptom für die Polizeigewalt in Frankreich gelten darf, der unmittelbare Auslöser für die landesweiten Riots, so kommt die räumliche Segregation in den Banlieues hinzu, in denen Bevölkerungsgruppen nach Einkommen in Kombination mit Abstammung und Herkunft ein- und ausgeschlossen werden. Die Mischung aus hohem Immigrantenanteil, ökonomischer Verarmung, sozialer Perspektivlosigkeit und brutaler Architektur macht die französischen Trabantenstädte zu einem Symptom der „Dritten Welt“ in den Metropolen. Dabei ist die Segregation weniger ein ethnisches, sondern ein soziales Problem. Es leben eben nicht die „die Araber“ oder „die Schwarzen“ in bestimmten Räumen der Banlieues zusammen, sondern es leben Gruppen mit niedrigem Einkommen oder Schwierigkeiten, woanders eine Wohnung zu bekommen, nahe beieinander.
Auch in den vergangenen Tagen wurde das Beste, was der Westen zu bieten hat – Autos, Schulen, Einkaufszentren – in Brand gesteckt. Es wurde auch geplündert, aber das ist nicht nur als ein Run oder als Affinität der Jugendlichen aus den Banlieues auf westliche Markenkonsumware zu verstehen, sondern deutet eine Umverteilung des allgemeinen Reichtums zumindest an (in den 1970er Jahren wurden solche Aktionen in Italien noch „proletarischer Einkauf“ genannt). Dies steht im Zusammenhang mit Sachschäden, die eine spezifische Form der Eigentumskritik symbolisieren. Verweisen die Aufstände auch auf keine explizite Strategie, so bringen sie doch durchaus eine politische Artikulation ins Spiel, und zwar als radikale Negation. Das wichtigste Surplus sind die aktiv negierenden, die widerständigen Jugendlichen in den aufbrechenden Momenten der Massenmobilisierung, welche sich zu einem Ereignis verdichten, bei dem der Aufstand das polizeiliche Management einer konkreten Situation sprengt und sich zugleich vom alltäglichen Leben radikal entkoppelt. Sobald aber die Lage sich etwas beruht, und das sahen wir in der Nacht vom Freitag auf Samstag, fährt der Staat nach und nach seinen gesamten Gewaltapparat auf und macht sichtbar, wer das Gewaltmonopol besitzt.
Die wichtigsten Reservoirs der Aufstände bestehen auch jetzt in Frankreich wieder aus Jugendlichen, denen der Weg in die Beschäftigungssysteme versperrt wird, aber im Generellen eben aus der Surplus-Bevölkerung, die Tag und Nacht unmittelbar mit dem kontrollierenden staatlichen Krisenmanagement konfrontiert wird. Dabei kommt der französischen Polizei eine besondere Rolle zu.
Die Polizei besitzt im Wesentlichen drei Abstammungslinien, nämlich die Sklavenplantagen, die Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung sowie die Jagd und die Einsperrung von Personen, die als abnormal galten. Die moderne französische Polizei hat in ihrer Praxis die Doktrin der Aufstandsbekämpfung aus dem Algerienkrieg übernommen und wendet sie seither an, um die Kontrolle in den kolonisierten Gebieten, in den Gefängnissen, in den Banlieues, bei Kämpfen und sozialen Revolten zu gewährleisten. Nach dieser Doktrin ist die Bevölkerung ein ständiger Unruheherd und muss daher durch eine Form des Polizeikrieges befriedet werden.
Durch die neoliberale und sicherheitspolitische Globalisierung ist die Aufstandsbekämpfung zu einem Teil der Regierungsprogramme im Westen geworden. Die Transformationen des neoliberalen Kapitals hat die Prekarisierung und die sozialen und rassischen Ungleichheiten in den Vorstädten immer weiter verschärft. Bei der Polizei wiederum hat sie zum Aufbau von Einheiten geführt, die der Terrorabwehr gewidmet sind, die die Repression maximieren und die4 mit hochtechnologischen Waffen ausgestattet sind. Es handelt sich um eine paramilitärische Ausrüstung sowie das permanente Testen der neuesten Sicherheitstechnologien. Dies geht mit einer Ausweitung der Sicherheitsgesetze, der fortgesetzten Verstärkung der Straffreiheit für Polizeiverbrechen und der Globalisierung des Antiterrorismus als Regierungsform einher.
Die Revolte für Nahel ist als eine Explosion der subversiven Wut zu verstehen, die auf die oben angerissenen sozialen Probleme und die polizeiliche Kontrolle von armen und rassifizierten Gruppen zum Teil zumindest zurückzuführen ist. Es ist aber auch eine selbstorganisierte soziale Bewegung, die sich auch gegen Orte der Macht richtet (Rathäuser, Präfekturen, Polizeistationen…) und Teil der langen Geschichte der Kämpfe gegen Polizeikriminalität und des Widerstands der Bevölkerung gegen staatliche Gewalt ist.
Es ist in diesem Kontext wichtig zu verstehen, dass das französische politische und wirtschaftliche System immer auch die Reproduktion einer historisch in der Kolonialgeschichte entstandenen sozio-rassischen Segregation betreibt, eine interne Kolonialität, die man als Sozio-Apartheid bezeichnen kann. Nach 5 Nächten der Revolte hat die Regierung nun ihre Eliteeinheiten und Antiterroreinheiten aufgefahren, um den Bürgerkrieg gegen die Jugendlichen zu verschärfen.