Auch in dieser Frage machte Marx keinerlei Zugeständnisse. Und es waren Deleuze/Guattari, die aufgrund vielfältiger historischer Erfahrungen, von denen Marx nichts wissen konnte, ins gleiche Horn bliesen und dessen Ansatz noch verschärften. Deleuze und Guattari verhöhnen geradezu die Demokratie, die den Vertrag, den Konsens und die Kommunikation und damit ständig Äquivalenz predigt (unter der Dominanz des Surplus) und sich zudem noch als ewig wiederkehrend ausweisen will. Deleuze/Guattari deklinieren die gesamte Bandbreite der Demokratien durch: In den Tausend Plateaus sprechen sie von militärischen Demokratien, sozialen Demokratien und sogar der totalitären-sozialdemokratischen Demokratie. In Was ist Philosophie? analysieren Deleuze und Guattari verschiedene Beispiele der Demokratie, die sich von der kolonialen Demokratie des Altertums bis hin zur Nazidemokratie erstrecken. Heute lässt sich eine weitere Variation feststellen, nämlich der Trend hin zu einer Business-Demokratie, das heißt, der Staat wird wie ein Unternehmen geführt, und zwar von Technokraten im Verbund mit den rein auf das Regierungshandeln bedachten Politikern. Man spricht jetzt vom Netzwerkstaat, in den flüssige Regierungsformen integriert sind. Das unsichtbare Komitee schreibt dazu: »Die Demokratie ist das Wesen aller Regierungsformen. Die Identität von Regierendem und Regiertem ist das äußerste Limit, an dem die Herde kollektiver Hirte wird und der Hirte in seiner Herde aufgeht, wo die Freiheit mit Gehorsam zusammenfällt und die Bevölkerung mit dem Souverän. Das gegenseitige Aufgehen von Regierendem und Regiertem ist Regierung im Reinzustand, die keinerlei Form noch Grenze mehr kennt. Nicht zufällig beginnt man nun, über die Liquid Democracy (Flüssige Demokratie) zu theoretisieren. Denn jede feste Form bildet ein Hindernis für die Ausübung der reinen Regierung. In der großen Bewegung allgemeiner Verflüssigung gibt es kein Widerlager, es gibt nur Abschnitte auf einer Asymptote. Je flüssiger, desto regierbarer; und je regierbarer, desto demokratischer. Der metropolitane Single ist natürlich demokratischer als ein verheiratetes Paar, das wiederum demokratischer ist als der Familienclan, der wiederum demokratischer ist als der Mafiastadtteil. »
Es
entspricht nicht unbedingt dem Alltagsverstand,
dass die
parlamentarische Demokratie darauf basiert,
dass die Staatsbürger mit der Wahl jegliche Machtbefugnisse an die
politischen Repräsentanten abgeben bzw. an professionelle Gruppen
von Politikern delegieren, die in ihrem Namen Entscheidungen treffen.
Aber doch ist es so.
Umgekehrt
kann
man auch sagen, erst weil die Repräsentanten existieren, existiert
auch die
durch sie repräsentierte
Gruppe. Wir befinden uns also in einer zirkulierenden, sich
wechselseitig verstärkenden Zuschreibung. Die Repräsentanten sind
Mitglieder einer entsprechenden bürokratischen Organisation (Partei)
und werden von dieser mit einem Mandat versehen. Und im Grunde
genommen funktioniert eine politische Partei, was ihre
Legitimationsweisen angeht, nicht anders als eine
Kirche, denn bei beiden Organisationen stellen die Delegierten die
Usurpation von Posten als einen Dienst an der Organisation und
insbesondere
an denjenigen dar, die sie gewählt bzw. delegiert haben. Will
beispielsweise ein Minister als legitim anerkannt werden, dann muss
er eine Nachfrage nach seinem »Produkt«
schaffen und dies geschieht folgendermaßen: Indem er behauptet, ganz
für das Volk da zu sein und für es zu sprechen, macht er sich zum
einen zum Volk und zum anderen löscht er sich selbst aus (und wird
damit erst alles). Diese Art der Transformation funktioniert
nur repräsentativ,
sodass der Politiker
als Repräsentant in einer Rechtsperson aufgehen muss, die zeigt,
dass diejenigen, die nichts als sie selbst sind, nichts sind, weil
sie nicht für das Volk sprechen, nicht
in dessen Namen sprechen, während er, der für das Volk spricht,
eben alles und
allmächtig ist.
Diese Konstruktion nennt Bourdieu den »Orakeleffekt«
Die
Delegation der Macht an die staatlichen Politprofis stellt eine
spezifische Form der Enteignung der Bevölkerung dar, sodass die
Bürger
nur durch die Enthaltung oder Nichtwahl im Rahmen der
parlamentarisch-repräsentativen Demokratie ihren
Unwillen zum Ausdruck bringen können.
Oft
genug besteht eben darin
die
einzige Möglichkeit der Unterklassen zur politischen Artikulation,
denn sie verfügen meistens nicht über die Bildung und die
politischen Ressourcen, um überhaupt in der Öffentlichkeit in
politische Debatten eingreifen zu können, womit gerade ihr Schweigen
als Rache an einem System begriffen werden könnte, das sie
ausschließt, indem es sie einschließt. Gerade ihre Apathie könnte
als ein unbewusster Protest gegen die Monopolisierung der Politik
durch die professionellen Politiker in den Staatsapparaten angesehen
werden. Diejenigen, die das Monopol besitzen, ständig über das
allgemeine Wohl des Volkes fabulieren zu können, sind es auch, die
das Monopol auf die Zugänge zu den Ämtern innehaben und damit von
den meisten öffentlichen Diskursen über das allgemeine Wohl
profitieren.1
Dabei
artikulieren sich die Parteien in einem politischen Feld, das sie
zwar gemeinsam besetzen, in dem sie sich aber zugleich in einer
gewissen Konkurrenz zueinander befinden, wobei der Einfluss und die
Macht einer Partei sich nicht nur an ihrer gegenwärtigen Stellung in
diesem
Feld bemisst, sondern auch an der Potenz, eine möglichst große,
heterogene Wählerschaft mobilisieren zu können, was jede Partei von
vornherein zur politischen Unschärfe zwingt. Die politische
Position, die eine Partei vertritt, ist ein Leitgedanke, der gerade
dann in die Tat umgesetzt werden kann, je größer die
Bevölkerungsanteile sind, die die Partei durch ihre symbolischen
Aktivitäten mobilisieren und an die Wahlurne bringen kann. Zugleich
soll im medialen Feld ein Gleichklang
zwischen denjenigen, die politische Meinungen zirkulieren lassen, und
denjenigen, die diese Meinungen konsumieren, erzeugt werden, wobei in
der letzten Instanz die politische Relevanz der Meinungen, Diskurse
und Positionen eben auch in der quantitativen Masse an Bürgern
liegt, die permanent mobilisiert werden muss. In den epidemisch
gewordenen Meinungsumfragen, die zu Wahlzeiten noch zunehmen, kommt
es zur Abfrage von Positionen, ohne dass die Produktion der
Formulierungen
und
das
spezifische Frage-Antwort-Spiel, hinter dem sich Strategien und
Interessen verbergen, transparent
wären, folglich ohne dass diese von
den Befragten auch
nur
im Ansatz durchschaut
oder
in Frage gestellt werden können.
Die
Wahl ist Teil eines politischen Marktes, der jedoch keineswegs durch
eine unsichtbare Hand dirigiert wird, sondern an dem insbesondere die
Experten und Repräsentanten der privilegierten Klassen ständig
Angebote formulieren, die über die Kanäle des Marketings, der
Medien, des Fernsehens und des Internets an die Bürger herangetragen
werden. Diese
wiederum
konsumieren
die Angebote und schließlich den Wahlakt selbst,
insofern
ihre
politischen Entscheidungskapazitäten
auf eine einzige synkretische Zeichnung verdünnt werden.
Letztendlich sind jegliche Gestaltungspotenziale der Bevölkerung,
die soziale Kämpfe und Konflikte betreffen, in der Wahl ausgesetzt,
vielmehr ist die Wahl aufgrund ihrer eigenen Logik geradezu
»ein
Instrument zur Verwischung von Konflikten und Gegensätzen«
(Bourdieu).
So
erkennt die Mehrheit mit den Wahlen unzweifelhaft an, dass ihr
Einfluss auf laufende und konkrete politische Entscheidungen gegen
Null tendiert.
Diese
werden
heute
oft genug abseits der repräsentativ-demokratischen Prozeduren von
einer professionell-technokratischen Elite und supranationalen
Institutionen getroffen, und
dies unter
Ausschluss der
bzw.
gegen die Bevölkerung, die allerdings mit einem Minimum an Chancen
und Rechten innerhalb
des
demokratischen Spiels
gehalten werden muss.
Die
Demokratie generiert
den
Gestus, dass die offizielle Meinung die Meinung der
Mehrheit sei,
oder zumindest derer, die es wert sind, überhaupt eine Meinung zu
haben. Dazu muss, wer
wirklich
an politischen Operationen teilhaben will, mit den durch den Staat
erzeugten und kontrollierten Spielregeln auch spielen können, gerade
indem mit den Spielregeln dem Spiel, das der Staat ist, die höchste
Ehre erwiesen
wird.
Dazu gehört auch der von den Unterklassen geforderte Respekt, die
Höflichkeit und der Anstand gegenüber den offiziellen Autoritäten.
Summa
summarum sind es Spielregeln, die das obligatorische und zugleich
fiktive »Wir« artikulieren, indem sie glauben machen, dass
die
Eliten und Technokraten für
nichts weiter sprechen
als
für dieses »Wir«. Die Parteien produzieren hegemoniale Diskurse
und vor allem den Glauben an die Universalität ihrer Diskurse, indem
sie Phantome produzieren, etwa »Deutschland«, das
Volk, Sicherheit,
Überfremdung, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und
dergleichen mehr. Die
Demokratie wird
dannzusammengeschweißt
vom Glauben an diese
Phantome,
sie
ist unter diesem Gesichtspunkt eine akkumulierte und im Staat
konzentrierte Phantomhaftigkeit, die sich als die Logik der Dinge
repräsentiert. Dazu bedarf es der offiziellen Diskurse bzw. der
offiziellen Reden, die innerhalb der Institutionen, der Verwaltung
und im öffentlichen Feld zirkulieren, um eine Art organisiertes
Vertrauen zu implementieren, das die staatlichen Diskurse stützt.
Der
Staat ist der Raum der Zirkulation der offiziellen Rede, der
öffentlichen Meinung, der Ordnung, der Mandate und letztendlich der
Ort einer noch im Protest offiziell anerkannten Macht. Diese
Macht wurde
über
lange Perioden der Auseinandersetzungen hinweg als Konsens verstanden
und dabei übersehen, dass diejenigen, die im Namen des allgemeinen
Wohls oder des Universellen sprechen, auch diejenigen sind, die den
Zugangs zu diesem Gut (Allgemeinwohl) monopolisieren. Es
handelt sich demnach um Akteure,
die das Vorrecht besitzen, sich diese universelle Ressource
anzueignen, indem sie das Monopol auf den Kampf um das Monopol
erlangen. Diese monopolistische Aneignung spielt in das Feld der
freien und gleichen Bürger hinein und setzt sich durch diese erst
durch, das heißt die Privatisierung der Bürger, aus denen sich der
Staat zusammensetzt, und die Repräsentation ihrer Einheit im Staat
bilden eine doppelte Bewegung, die in der Demokratie konvergiert. Und
gerade diese Konstellation bildet letztendlich keine Schranke mehr
für die rechtlichen Übergriffe des Staates in die
individuell-private
Sphäre
hinein.2
1Die
Wahlen nötigen dazu, eine Vielzahl heterogener und oft
ausschließender Diskurse, die im Kontext konfliktueller
Klassenhabiti, Klasseninteressen und Klassenstrategien auftauchen,
in einem singulären Akt zu verdichten, das heißt in einem Wahlakt
Dinge zur Entscheidung zu stellen, für die man eigentlich Tausende
von politischen Auseinandersetzungen in Permanenz bräuchte. Reale
politische Einflussmöglichkeiten verschiedener Gruppen werden durch
die Wahl nicht nur beschränkt, vielmehr erkennt der von seinen
Interessen, Wünschen und Begehren entkleidete Staatsbürger mit der
Wahl an, dass er seinen Einfluss an professionelle Mandatsträger,
die
innerhalb eines Apparates fungieren, delegiert.
2Der Staatsbürger, ein Individuum, das als das Subjekt unveräußerlicher Freiheiten und Menschenrechte angesehen wird, muss zugleich als ein Körper begriffen werden, der vom Staat und seinen Privatisierungszentren geschaffen wird, man denke an Familie, Schule etc.
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Foto: Stefan Paulus
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