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Paris am 21. September – Ein Rückblick auf den Acte 45

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Ein schwieriger
Morgen

Um 9 Uhr morgens kreisen die ersten Gilets
Jaunes um den Place de la Madeleine. (1) Das Polizeiaufgebot ist
augenfällig umfangreich und die „Roten Zonen“, in denen alle
Demonstrationen untersagt sind, waren noch nie so umfangreich wie
heute. Die Trupps der schnellen Eingreiftruppen, BRAV, BAC (2) und
andere, spielen von den allerersten Minuten an die Nahkampf-Karte.
Jeder Versuch einer Ansammlung von mehr als 100 Teilnehmern wird
sofort angegriffen, auseinander getrieben und mit Tränengas
eingedeckt. Einem Umzug gelingt es, sich in den Bahnhof Saint Lazare
zu flüchten, was den normalen Ablauf des Eisenbahnverkehrs für
kurze Zeit unterbricht. Ein schwieriger Morgen also, die Versuche, in
die abgeriegelten Viertel zu gelangen führen bereits zu diesem
Zeitpunkt zu vielen Verhaftungen.

Effektive
Konvergenz

Dieser 21. September
war in der Tat ein Moment der effektiven "Konvergenz" (3).
Die gelben Westen trafen sich spontan auf der anderen Seite der Seine
auf dem "Marsch für das Klima" wieder. Sehr schnell
bildete sich an der Spitze der Demo eine bunte und entschlossene
Menge, ein "Cortège de Tête"(4), so wie im Frühjahr 2016
(5), diesmal allerdings mit einer auffälligen Präsenz der gelben
Westen verziert. Antikapitalistische Slogans hallten durch die
Straßen, Graffiti blühten auf und die ersten Schaufenster
(Bankfilialen, Immobilienagenturen oder Versicherungsgesellschaften)
gingen zu Bruch, um dem Verlangen Einiger gerecht zu werden, die den
Konflikt um das Klima auf einen neuen Level der Auseinandersetzung
heben wollen.
Einige Umweltorganisationen verlangten, dass der
Marsch wegen der Gewalt beendet werden solle, aber eine große
Mehrheit ihrer Aktivisten blieb solidarisch, indem sie den Marsch,
der an vielen Stellen förmlich im Tränengas ertrank, einfach
fortsetzten. Der Marsch sollte dann in Bercy enden, nicht ohne
mehrere gewalttätige und aggressive Angriffe der BRAV auf Teile der
Demo, auch auf Blöcke, in denen Familie mitliefen.

Die
Schamlosigkeit des Apparats

Es scheint, dass das
unverhältnismäßige Ausmaß der polizeilichen Maßnahmen in der
Hauptstadt in die direkte Verantwortung der französischen Regierung
fällt. Bilder von gepanzerten Fahrzeugen, festungsähnlich
abgeriegelte Quartiere und marodierende Einheiten der BRAV sind die
neue politisch akzeptierte Norm für die Polizeieinsätze unter
Macron. Glücklicherweise zeigt die Realität der Ereignisse, dass es
ihnen trotzdem nicht gelungen ist, die Ereignisse vollständig zu
kontrollieren. Obwohl der größte Teil der Wut nur mehrere Kilometer
vom Elysée entfernt ausgedrückt werden konnte, wächst sie weiter
und sucht nach neuen Ausdrucksformen.

Auf der Suche
nach neuen Formen

Nicht von ungefähr
konnten die gelben Westen und eine ganz neue Generation
klimabewusster junger Menschen die Freuden des "Cortège de
Tête" genießen. Es handelte sich auch um den einzigen Marsch
für das Klima in Europa, der solche Zeichen der Entschlossenheit
zeigte (sicherlich im besonderen Zusammenhang mit dem Acte 45 der
Gilets Jaunes).

Darüber hinaus ist
die Reproduktion des "Cortège de Tête" an sich schon aber
auch eine Begrenzung. Eine Begrenzung, die sich bereits Ende 2016
zeigte. Er existiert nur im Kontext eines Demonstrationsaufrufs, d.h.
nur innerhalb der Logik eines Demonstrationszuges, der (mehr oder
weniger) unter der Kontrolle der Polizei stattfindet. Es zeigt sich
also auch das Versagen der Bewegung der gelben Westen, sich auf ihre
eigenen Kräften zurück zu besinnen und die Intensität der Kämpfe
vom Dezember 2018 wiederzuerlangen. Jener Kämpfe, die die
Vorstellung vom Ablauf politischer Konflikte in Frankreich auf den
Kopf gestellt hatten.

Die Nacht der
Barrikaden fand nicht statt. (6) Aber es gab mehrere hundert gelbe
Westen, Umweltaktivisten und wütende Bürger, die im Laufe der Nacht
auf den Champs Elysées herumgezogen sind. Diese Demonstration ist
wahrscheinlich die erste nächtliche Manifestation einer Bewegung
dieser Größenordnung (7) und markiert den Wunsch einer Reihe von
Menschen, über die übliche zeitliche Begrenzung der wöchentlichen
Acte hinauszugehen.

Fussnoten

(1)

Hier sollte
ursprünglich eine gemeinsame Demo von Umweltaktivisten, Gilets
Jaunes, unabhängigen Gewerkschaften und linken und
antifaschistischen Gruppen stattfinden. Im Vorfeld des schon lange
geplanten weltweiten Aktionstages zum Schutze des Klimas hatten über
100 Gruppen aus den verschiedenen Spektren einen Appell
veröffentlicht, dass es am 21. September eine gemeinsame Aktion
geben solle. Diese Demo war aber von den Behörden untersagt worden,
alternative Auftaktorte in ganz anderen Teile von Paris waren von den
aufrufenden Gruppen abgelehnt worden und es wurde trotz Verbot weiter
zum Place de la Madeleine mobilisiert.

(2)

BRAV -
Bulleneinheiten die in Rudeln zu zweit auf Motorrädern auftauchen.
Wurden in den 80igern wegen Protesten aufgrund ihrer Brutalität
aufgelöst. Sie waren u.a. für den Tod eines jungen Mannes nach
einer Studentendemo verantwortlich. Der neue Polizeipräsident von
Paris, Didier Lallement. stellte die Einheit vor ein paar Monaten
wieder neu auf.

BAC- Zivile
Schlägertrupps der Polizei, werden häufig in den Vororten
eingesetzt, wo sie verhasst sind. In den letzten Jahren regelmäßig
auf jeder Demo, bei der etwas passieren könnte, zu sehen.

(3)

Die „Convergence
des Luttes“ ist eine in Frankreich gebräuchliche Phrase über das
„Zusammenführen“ der verschiedenen Kämpfe. Wobei jede und jeder
etwas anderes darunter versteht.

(4)

Den "Cortège
de Tête" gibt es noch nicht so lange. Früher bildete z.B. die
CGT bei Gewerkschaftdemos die Demospitze oder linke Parteien oder
Organisationen mit ihrem Ordnerdienst taten dies. Seit der Bewegung
gegen das „loi travail“ 2016 aber findet sich an der Spitze der
Demos in Paris, aber auch in vielen anderen französischen Städten
eine bunte Mischung von Menschen ein, die man nicht unter black block
oder Autonome/Antifas sublimieren kann, auch wenn das viele Medien
gerne tun. Dieser Block sorgt dann regelmäßig für
Sachbeschädigungen und legt sich mit den Bullen an.

(5)

Im Frühjahr 2016
begann die Bewegung gegen das „loi travail“

(6) Siehe den Aufruf
dazu:
https://non.copyriot.com/aufruf-zu-einer-grossen-nacht-der-barrikaden-am-21-september-in-paris/

(7)

Hier liegen die
Verfasser nicht ganz richtig. Es gab schon einige „Nachtdemos“
der Gilets Jaunes: Allerdings fanden diese eher in kleineren Städten
statt und wurden deshalb nicht so wahrgenommen. Im Übrigen gab es
bei diesen „Nachtdemos“ auch schon Kämpfe mit den Bullen.

Anmerkung:

Dieser Text in
freier Übersetzung erschien ursprünglich am 22.09.2019 auf der
website von 'Rouen dans la rue'.

https://rouendanslarue.net/acte45-paris-que-retenir-de-ce-samedi-21-septembre/

Der Beitrag Paris am 21. September – Ein Rückblick auf den Acte 45 erschien zuerst auf non.copyriot.com.


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