Vortrag, gehalten mit Paul Weiler an der Universität Hannover
In einem Text von 1973, der im Kursbuch erschien, hat Manfred Clemenz den Begriff des strukturellen Staatsfaschismus eingeführt. Dieser markiert eine Zwischenstufe zwischen zwei Formen des Staates, nämlich zwischen dem repräsentativ-bürokratischen und dem faschistischen Staat. Wir sind der Ansicht, dass der Staat der Gegenwart in genau diese Zwischenstufe eingetreten ist. Es handelt sich hier nicht um eine neuartige Staatsform, sondern um einen konjunkturellen oder situativen Wandel des Regierens, um eine Verschiebung und schließlich Neuordnung von Staatsapparaten und Governance/Regierungsformen, die noch keine endgültige Gestalt gefunden haben, sodass der gewöhnliche Kapital-Staat auch nicht ganz aufgehoben ist. Aufgrund eines spezifisch codierten Krisenszenarios und Durchsetzung der Präventivlogik des Sicherheitsstaates werden politische und rechtliche Maßnahmen ergriffen, die den Charakter des normalen kapitalistischen Staates nachhaltig verändern und seine Rechtsstaatlichkeit soweit abbauen, dass sie mit der grundlegenden Verfassung nicht mehr in Einklang gebracht werden können, ohne diese selbst zu leugnen. Dabei gehen die Spezifika des gegenwärtige Staates in Begrifflichkeiten wie etwa autoritärer Neoliberalismus nicht mehr auf. Auch andere Begriffe wie Totalitarismus, autoritäre Demokratie oder Etatismus erscheinen ungeeignet, um das Charakteristische und Neuartige zu bezeichnen, weshalb wir, zugleich auch um das Moment der Entwicklung darin stärker hervorzuheben, den Begriff strukturelle Staatsfaschisierung vorschlagen.
Der kommende Faschismus, der als „Faschismus« in Anführungszeichen gesetzt werden muss, nimmt heute vielleicht jene Gestalt an, nach der in den 70er Jahren noch gefragt wurde. Dabei gilt es aber auch zu beachten, dass der Faschismusbegriff oft genug gerade dort einspringt, wo Monstrositäten, Ausnahmen und Frakturen adressiert werden sollen, für die Begriffe allerdings noch fehlen. Wenn dann aber der Begriff des Faschismus in den Kämpfen um Theorien und Diskurse ganz ausgespart wird, dann entsteht eben längst kein diskursiv leerer Raum. Wir befinden uns also auf einem schwierigen Terrain.
Der Begriff strukturelle Staatsfaschisierung, wir wir ihn vorläufig verwenden, basiert auf historischen Voraussetzungen, die in den 1970ern Jahren so noch nicht gegeben waren. Zu nennen sind vor allem die sich transformierenden und verschärfenden Verwertungskrisen des Kapitals, die Implementierung neoliberaler Maßnahmen und Projekte wie Finanzialisierung, Deregulierung, Austeritätspolitik, Privatisierung und die globale Fragmentierung der Produktionsprozesse. Die daraus entspringenden Wirkungen kommen heute global einem ökologischen und sozialen Katastrophenprogramm gleich: So sind in den Peripherien immer mehr Menschen gezwungen, in den Slums der Großstädte oder in failed states dahinvegetieren zu müssen. Wir gehen davon aus, dass diese Krisenentwicklung in Frequenz und Intensität weiter zunehmen wird, und damit einhergehend auch die soziale Polarisierung in den Metropolen, zugleich aber eine Rückkehr zum national-sozialstaatlichen Kompromiss des Fordismus, d. h. einer historischen Sonderperiode, die durch Systemkonkurrenz, Klassenkompromiss, Korporatismus und keynesianische Wirtschaftspolitik gekennzeichnet war, heute nicht mehr möglich erscheint. Aus den genannten Gründen wird die Regulation gesellschaftlicher Fragmentierung zunehmend auch polizeilich statt durch materielle Gratifikation gelöst. In dem Maße, in dem der Staat soziale Leistungen abbaut, muss er repressiv aufrüsten: Austerität und Autoritarismus gehören zusammen. Oder, um es anders zu sagen, der Markt und starker Staat schließen sich zwar in der neoliberalen Doktrin, nicht aber in der Praxis gegenseitig aus. Das widerspricht sich also überhaupt nicht.
Staat und Kapital
Kommen wir nun, bevor wir näher auf die Details der Faschisierung eingehen, zunächst zum Staat im Allgemeinen. Als wichtige Bestandteile des modernen souveränen Nationalstaates werden in der Völkerrechtslehre allgemein das Territorium, die Staatsgewalt und die Bevölkerung betrachtet. In der materialistischen Theoretradition hat Nicos Poulantzas im Anschluss an Louis Althusser den Staat als »die materielle und spezifische Verdichtung eines Kräfteverhältnisses, das ein Klassenverhältnis ist« betrachtet, als ein komplexes Feld, in dem verschiedene Organisationen, Apparate und Institutionen, darunter als durchsetzungsfähigste die der herrschenden Klasse, auf nationalen und regionalen Ebenen agieren. So gesehen ist der Staat weder als ein autonomes Subjekt noch als ein reines Werkzeug der herrschenden Klasse (wie im Vulgärmarxismus) zu fassen, allerdings auch nicht als eine rein neutrale Instanz, wie in bürgerlichen Theorien, sondern, und dies gilt heute mehr denn je, in spezifischer Weise innerhalb eines Kräfteverhältnisses oder eines Feldes als ein verlässlicher Organisator und Garant der Verwertungs- und Reproduktionsbedingungen des Kapitals. Eben als Staat des Kapitals, der schwerlich gegen das Kapital regieren kann, weil er von dessen Funktionieren und dessen möglichst reibungsloser Akkumulation abhängt, und gerade deshalb die Reproduktion des Kapitals in die politische Form übersetzen muss. Er unterstützt die Akkumulation des Kapitals zum Beispiel auch dadurch, dass er niedrige Löhne mit sozialen Programmen kompensiert, sog. Externalitäten (wie die Behebung von Umweltschäden) absorbiert und und finanziert und bestimmte Infrastrukturen zur Verfügung stellt, die insbesondere privaten Unternehmen dienen, und schließlich auch die Sicherheit durch die Verstärkung der Polizei intensiviert. Mittels Austeritätspolitik und der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums betreibt er heute aggressiv den Klassenkampf zugunsten des Kapitals und stellt zugleich bestimmte funktionale Bedingungen für die Kapitalverwertung her Obgleich der Staat in erster Linie die politischen Interessen der herrschenden Klassen zur Geltung bringt, ist er kein bloßes Ausführungsorgan des Kapitals, sondern besitzt der Ökonomie gegenüber eine relative Autonomie.
Der Staat eignet sich in langen qualvollen Konzentrationsprozessen, die von militärischer Macht und dem Steuerwesen ausgehen, exakt das daraus entstehende Kapital physischer Gewalt an, das heißt der Konzentrationsprozess ist gleichzeitig ein Separatíonsprozess (er enteignet die Bevölkerung von der Macht und dem Denken); das staatliche Gewaltmonopol, das allerdings ohne die Aneignung des symbolischen Kapitals durch den Staat nicht auskommen kann, bildet sich also auf Grundlage von historischen Enteignungen. Der Staat wurde sozusagen in einem langen Staatsstreich hervorgebracht, der ein für alle mal etabliert, dass es einen einzigen legitimen und dominanten Standpunkt gibt, der den Maßstab aller anderen Standpunkte bildet. Die staatliche Gewalt besitzt einen latenten und einen offenen Aspekt. Der Staat und die Macht können sich meistens mit latenter Gewalt begnügen, das heißt die offene Gewalt wird in Reserve gehalten. Wer ständig auf militärische Mittel zurückgreift ist nach Machiavelli nicht auf der Höhe des Begriffs der absoluten Politik. Bourdieu spricht in seinen Vorlesungen zum Staat von einer organisierten und legitimen Verbrecherbande, die Schutzgelder erpresst, wie man es vielleicht aus Chicago kennt, i.e. sie unterscheidet sich nicht so sehr vom Staat. Bourdieu fasst überspitzt zusammen: 1. Der Staat ist eine Erpresserbande, aber nicht nur. 2. Er ist eine legitime Erpresserbande. 3. Eine legitime Erpresserbande im symbolischen Sinne.
Bourdieu versteht die Entstehung des Staates als einen Prozess der Integration und Homogenisierung, indem er als eine produktive Objektivierungsinstanz agiert: „Der Staat ist eng verbunden mit der Objektivierung und mit sämtlichen Objektivierungstechniken: Er behandelt die sozialen Tatsachen als Dinge, die Menschen wie die Dinge – er ist Durkheimianer lange vor Durkheim.“ (Ebd.: 377) Vereinheitlichung und Integration sind von der Enteignung nicht zu trennen, insofern Kenntnisse und Kompetenzen, die auf lokale Werte und Maße bezogen sind, nun entwertet sind. So geht die Universalisierung Hand in Hand mit der Konzentration der Universalität. Dieser Übergang kennzeichnet auch die Transformation vom lokalen Markt zum nationalen Markt, egal ob auf ökonomischer oder symbolischer Ebene. Exakt die letztere Ebene ist ein Effekt der Macht, die mit der Institution des Staates verbunden ist, und dieser Effekt besteht in einer Naturalisierung, einer doxa, die auf relativ willkürlichen Voraussetzungen beruht, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Staates gemacht wurden. Der Staat kann dann mit dem So-ist-es-Effekt spielen, eine äußerst gewaltsame Aktion des Staates, die der Bevölkerung aufgenötigt wird und die sie ohne Wenn und Aber zu akzeptieren hat. Der Staat schließt also immer den Raum der Möglichkeiten, insbesondere den des Widerstands.
Geschichtlich konzentriert und monopolisiert der Staat neben der Gewalt vor allem die symbolische Macht, welche eine legitime Kultur durch die Produktion und Kanonisierung bestimmter sozialer Klassifikationen festlegt, und die Bevölkerung damit zugleich ihrer eigenen abweichenden Formen enteignet. Seine legitimatorische Funktion bezieht sich unter anderem auf seine Rolle als Mediator/Vermittler zwischen Unternehmen und Arbeitern, als Produzent von Arbeitsrechten und eines sozialen Sicherheitsnetzes. Sie umfasst weiter die Monopolisierung der Sprache, die über staatliche Mechanismen und Institutionen wie das Recht, die Schule und die Universität als offizielle Sprache verordnet wird. Zugleich geht dies mit einem Prozess der Universalisierung einher, bei dem die professionellen Staatsbeamten das Vorrecht auf das Universelle haben, gerade indem sie es monopolisieren. Dieser Prozess der Aneignung vollzieht sich als Konzentration, Setzung und Vereinheitlichung, mit der das Lokale, Regionale und Verstreute einem universellen Standard unterstellt wird. Zugleich erhält jeder Einzelne innerhalb eines Territoriums eine staatliche Identität, wird so als Staatsbürger konstruiert und mittels staatlicher Statistik quantifiziert und klassifiziert. Bourdieu schreibt dazu: »Die Konstruktion des Staates als relativ autonomes Feld, das eine Macht ausübt, die die Zentralisation der physischen Gewalt und der symbolischen Gewalt bewirkt, und somit einen Einsatz von Kämpfen bildet, geht untrennbar einher mit der Konstruktion eines vereinheitlichten sozialen Raumes, der sein Gebiet ist.« Diese Vereinheitlichungsprozesse sind solche der Sprache, der Maße, der Diskurse und Redeweisen. Dem staatlichen Sektor gehören zudem Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, Medien, Apparate und Instanzen an, die einerseits ideologische Zurichtung, anderseits objektivierende und quantifizierende Mechanismen der Zählung, der Statistik und des Klassifizierens in Gang setzen und betreiben, die in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern eine hegemoniale Geltung beanspruchen und für die Bevölkerung tatsächlich auch Common Sense sind, indem sie den Alltag als Normalzustand konstruieren, einen Alltag, auf den man scheinbar ohne Weiteres vertrauen kann. Die soziale Metrik, die der Staat inszeniert und die heute in Omnimetrie, also der Obsession, alles zu quantifizieren, mündet, ist schließlich immer auch an die Konstellation, Periodik und Intensität der Klassenkämpfe gebunden.
Permanente Regierung und Tiefer Staat
Im Normalfall, in dem die Bevölkerung in das kapitalistische System voll integriert ist, reagieren Staaten bei kurzfristigen Krisenprozessen mit Reformen und einer entsprechender Rhetorik, mit dem Aufbau von Krisenreserven in allen Bereichen sowie mit ökonomischer Intervention und politischen wie auch militärischen Maßnahmen überall dort, wo die Verwertung und der freie Fluss von Waren und Kapital innerhalb der Wertschöpfungsketten gestört werden könnten. Seit einigen Jahren, in Zeiten verschiedener sich überlagernder Krisenprozesse, finden tiefgreifende Veränderungen im institutionellen Gefüge statt, wenngleich dieses seine Fassade nach außen hin beibehalten kann. Angefangen bei den Parteien: Sie sind längst nicht mehr die Interessenverbände unterschiedlicher Klassen und repräsentieren diese im Parlament, sondern sie transformieren sich zu professionellen Wahlvereinen für die sich selbst reproduzierende Exekutive. Agamben nennt dies das reine Regierungshandeln. Die politischen Parteien verändern sich also in ihrer Struktur und Funktion. Die Parteiführungen sitzen nicht mehr in der Regierung, weil sie die Vertreter ihrer Parteien im Parlament sind, sondern sitzen an der Spitze ihrer Parteien, weil sie in der Regierung sind. Neben den Parteien, dem Einflussgewinn informeller Gremien, privater Konzern-Lobbyisten, nicht gewählter supranationaler Institutionen und der exekutiven Organe hat sich in den letzten Jahren das strategische Netzwerk des Staates, dessen Teil der Block an der Macht ist, weiter transformiert. Dieses exekutiert bestimmte politische Optionen durch extralegale Organe, Praktiken und Transaktionen, was unter Stichworten wie »Tiefer Staat« und »permanente Regierung" diskutiert wird. In Anbetracht dessen, dass die administrativen Stäbe ohnehin unabhängig von einzelnen Regierungswechseln arbeiten, handelt es sich des um ein verdichtetes Netzwerk aus Regierungspersonal, Bürokratie, Geheimdiensten, Militär, informellen Organisation des Kapitals, multinationalen Konzernen und der Finanzindustrie. Dieses steht unter politisch-ökonomischer Dominanz der letzteren und dem militärischen Schutz der bewaffneten Formationen. Dies ist insofern interessant, insofern jetzt zum einen das finanzielle Kapital den Staat in eine Unternehmensform mit-transformiert, wobei die jeweiligen Kräfteverhältnisse zwischen Finanz und Staat zu beachten sind (der Staat ist bspw. selbst ein ökonomischer Akteur, der als Emittent von Staatsanleihen auf den Finanzmärkten auftritt), zum anderen die Polizei im weiteren Sinne eine stärkere Rolle in den staatlichen Apparaten einnimmt. Dabei ist davon auszugehen, dass das finanzielle Kapital und die großen multinationalen Unternehmen über intensive Lobbyarbeit und die Wirkungsweise Märkte die Staaten dazu anhalten, den Bedingungen des Kapitals zu folgen und dessen Interessen einzuhalten. Man könnte heute von einer globalen Governance ohne Souveränität, aber nicht ohne Staaten sprechen.
Staatsfaschisierung bedeutet in diesem Kontext, dass der Staat nicht nur auf Krisen und Konflikte reagiert, sondern diese antizipiert und daher einer Präventivlogik folgt, gerade indem er ein permanentes und proaktives Krisenmanagement nach innen und außen betreibt.
Prävention ist zunächst ein Zeitschema; es soll etwas getan werden, bevor ein unerwünschtes Ereignis eintritt, wobei vorausgesetzt wird, dass sich aus gegenwärtigen Indikatoren künftige unerwünschte Zustände und Ereignisse prognostizieren lassen, diese prognostizierten Fehlentwicklungen ohne die zuvorkommenden Gegenmaßnahmen wahrscheinlich auch eintreten werden und folglich möglichst frühzeitige Eingriffe die größtmögliche Risikominimierung versprechen. Prävention will also nicht schaffen, sie will verhindern. Und man kann nie genug und nie früh genug vorbeugen. Alle Prävention versucht, unabhängig von der jeweils gewählten Strategie, potenzielle Schäden in der Zukunft zu verhindern. Im Kern meint Prävention eine Arbeit am Virtuellen: Sie zielt darauf ab, das Werden in seiner Ereignishaftigkeit zu lenken, um drohenden Gefahren auszuweichen. Zukünftige, noch nicht geschehene Ereignisse erlangen so eine nicht zu leugnende Präsenz in der Gegenwart.
Wir haben es hier mit einer permanenten Versicherheitlichung zu tun, mit der ständig Bedrohungslagen und Risikofaktoren aufgespürt werden, um die Legitimation präventiven Handelns herzustellen, und dieses wird dann auch durchgesetzt und kann bis zur Liquidierung vermeintlicher Volksschädlinge oder Klassenfeinde reichen. Die Logik der Prävention ist schließlich die der antizipierten Säuberung. Auf jeden Fall benötigt die Prävention eine umfassende Datenerhebung und -verarbeitung (Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung), um zum einen die Bevölkerung zu konstituieren und zugleich zu kontrollieren, und zum anderen Unsicherheiten jeglicher Art in ein wahrscheinliches Risiko zu übersetzen, um schließlich den Sicherheitsstaat zu errichten. Die verschiedenen Vorhersagen konstruieren die Zukunft gerade auch durch das Management der Subjekte, die selbst in Risikokategorien eingeteilt werden. An dieser Stelle überlappen sich Finanzsystem, genauer die Kreditökonomie, und präventive Verpolizeilichung; gerade indem die Subjekte als potenzielle Risiken markiert werden, produziert man in der Gegenwart ständig neue Risikosubjekte.
Letztendlich kann alles zum Risiko werden, was von den vorgegebenen Solllwerten abweicht oder, um es genauer zu sagen, was sich als Vorzeichen solcher Abweichungen identifizieren lässt. Damit wird die Prävention selbst zum Motor eines repressiven Normalismus, der zudem noch anfängt jedwede Art von Abweichungen zu pathologisieren. Normalistische Steuerungsmechanismen, die auf die Zukunft ausgerichtet sind, fangen nun an die Gesetze und die bestehenden normativen Reglementierungen zu überlagern. Heute ermöglichen Big Data und weitere Technologien die Kontrolle und Granularisierung der Normalitätsfelder und Normwerte, die sich je schon ändern können. Wer vorbeugen will, darf niemals aufhören zu kontrollieren. Somit geht es bei der Prävention nicht nur um die Risikovermeidung, sondern um ein detailliertes Risikomanagement, das einerseits katastrophisch, andererseits wahrscheinlichkeitstheoretisch angelegt ist. Daraus folgt zum einen, dass man immer vom Schlimmstmöglichen ausgeht und auf Dispositive der Furcht setzt, zum anderen bei der Risikofindung eine Umkehrung der Beweislast notwendig ist. Nachgewiesen werden muss nicht das Risiko, sondern dass keines existiert.
Gerade im Zuge des Terrorismus hat man sog. Precautionary principles eingeführt, die von den worst case scenarios ausgehen und alle möglichen Bedrohungen zu imaginieren. Der Aktivismus der Prävention generiert damit sozusagen das, was er bekämpfen will, man folgt einer Logik einer Politik im Konjunktiv. Und wenn es dann noch gilt, das Schlimmste zu vermeiden, dann erscheint fast alles erlaubt. Das Regime der Prävention kreist damit immer auch um das Problem des staatlichen Ausnahmezustands, der nun auf Dauer gestellt wird. Das Recht wird zumindest partiell suspendiert oder es wird ständig umgeschrieben, um angebliche politische Ereignisse abzuwenden, welche die bestehende Rechtsordnung zerstören könnten. Im Namen eines Exzeptionalismus beansprucht der Ausnahmestaat die Herrschaft über Leben und Tod und radikalisiert die Mechanismen disziplinarischer Zurichtung und postdisziplinärer Kontrolle. Die vorweggenommene Katastrophe wird zum Vehikel protofaschistischer Sicherheitspolitiken, die vom Staat selbst ausgehen. (Man kann den Ausnahme-/Sicherheitsstaat allerdings nicht mehr allein im Bezug zum Gesetz denken, weil er inzwischen das konstitutive Prinzip der Gouvernementalität verkörpert. Die juridische Leere mag zwar für das Gesetz undenkbar sein, aber nicht als eine Praktik der Macht, die das Gesetz konstant umgibt und sich auch außerhalb der juristisch-politischen Souveränität des Staates abspielt. Was seit dem 1. Weltkrieg über den Faschismus bis heute heute wirkt ist nicht nur der Ausanhemstaat, sondern die Kriegsmaschine des Kapitals, für die der Sicherheitsstaat ein Apparat oder Dispositiv ist. Staat und Krieg wurden nun Komponenten des Kapitals , was radikale Transformationen ihrer Funktionen und Relationen nach sich zieht.)
Agamben hat darauf hingewiesen, dass heute längst Sicherheitsgründe (raisons de sécurité) den Platz dessen eingenommen haben, was man früher die Staatsräson (raison d’état) nannte. Für Agamben einstehen damit eine Reihe von Tendenzen, die im Ausnahmestaat resultieren, der von ihm als eine Regierungstechnik begriffen wird, wobei im Kern der liberalen Demokratie schon die Aufhebung des Rechts lauert. Es geht hier zum ersten darum, neue Beziehungen in der Bevölkerung herzustellen, die aus einer ständigen Überwachung bestehen – deswegen die Konzentration auf Einrichtungen, die eine lückenlose Kontrolle von elektronischen und Kommunikationsdaten der Einzelnen erlauben. „Die Forderung nach Transparenz bedeutet in ihrer übersteigerten und letztlich totalitären Form, dass jede und jeder von uns legitimerweise in allen Aspekten des Lebens dauerhaft überprüft, beobachtet, klassifiziert und bewertet wird.” Zugleich wird die Teilhabe der Bevölkerung am politischen Leben immer mehr auf die Beteiligung an Meinungsumfragen im Vorfeld von Wahlen reduziert. Diese Tendenz ist für Agamben umso beunruhigender, als sie schon durch Nazi-Juristen in theoretische Form gegossen wurd: Diese haben das Volk als politisch ohnmächtiges Element definiert, dessen Schutz der Staat garantieren muss. Wenn man die Bürger entpolitisiert, dann können diese aus ihrer Passivität nur noch durch die Angst vor einem fremden Feind mobilisiert werden. Eine weitere Tendenz besteht in der Hinführung zu einem Zustand, in dem Terrorismus und Sicherheitsstaat eine symbiotische Beziehung eingehen: So wird bei den Beschreibungen terroristischer Verbrechen auf eine Tatsachensicherheit im juristischen Sinne zunehmen verzichtet.
Die Tendenz beständiger Transformation
Die neuartige strukturelle Staatsfaschisierung entsteht also nicht ausschließlich als Reaktion auf gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen und Krisenprozesse, sondern antizipiert die kommenden ökonomischen, sozialen und politischen Krisen und Konfliktpotentiale, was in entsprechenden offiziellen Verlautbarungen auch klar benannt wird. Dazu entwickelt der Staat eine Reihe von Techniken, wie neue Kontroll- und Überwachungsinstrumente, die Daten aufzeichnen, akkumulieren und auswerten, Techniken zur weiteren Quantifizierung und Vermessung der Bevölkerung und solche polizeilicher und militärischer Art. Die Transformation des gewöhnlichen Kapital-Staates zu einem faschisierten Staat ergibt sich heute daher nicht unbedingt durch einen spektakulären Bruch, sondern durch die schleichende, aber beständig vorangetriebene Akkumulation, Verdichtung und Verschärfung faschistoider Maßnahmen. Dazu zählt vor allem die umfassende Militarisierung und Zugriffserweiterung der Polizei im Rahmen eines sich immer weiter entfaltenden Sicherheitsstaates bei gleichzeitiger Einschränkung der Grundrechte. Vor allem der Repressionsapparat erhält dafür immer weitere technische Mittel, rechtliche Möglichkeiten und exekutive Kompetenzen. Zu den weiteren Maßnahmen gehören die Verschmelzung von Polizei und Militär sowie von Polizei und Geheimdiensten[ (und auch von zivilen und bewaffneten Behörden); darauf aufbauend die flächendeckende Überwachung,[Datensammlung und -speicherung durch die staatlichen Dienste; außerdem die zunehmende Integration der Massenmedien in die ideologischen Staatsapparate, die Kriminalisierung der Armut bei gleichzeitiger Senkung des Reproduktionsniveaus der subalternen Bevölkerungsanteile, die Kooperation von »Sicherheitsbehörden« mit faschistischen und terroristischen Netzwerken im Inland (und ebensolchen Milizen im Ausland) und eine zunehmend aggressiver und kriegerischer werdende Außenpolitik. Evident sind die Verschärfungen von Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien bis hin zur Etablierung eines Feindstrafrechts und rechtlich verankerten Zugriffsbefugnissen weit im Vorfeld konkreter Straftaten – bis zur Vorbeugehaft. Anderseits aber eilt die Exekutive dieser Entwicklung stetig voran und antizipiert sie: So forschen beispielsweise Pentagon und CIA seit Jahrzehnten an der Verwissenschaftlichung der Folter, und die sogenannte »weiße Folter« und andere Methoden wurden exzessiv bereits in den 1970er Jahren umfassend erprobt, während das Folterverbot weiterhin noch existiert. In den USA ist seit 2001 eine exorbitante Zunahme extralegaler Hinrichtungen im Ausland, meist durch Drohnenangriffe, aber auch durch Spezialtruppen bekannt geworden, denen keinerlei Gerichtsverfahren vorausgeht. Wird eine rechtswidrige Praxis bekannt, führt das meist nicht zu ihrer Einstellung, sondern zu ihrer nachträglichen Legalisierung oder ihrer stillschweigenden Duldung. Zunehmend verschwimmen dabei die Grenzen von Krieg, Polizeioperation und verdeckter Tätigkeit. Es kommt zu einer legislativen, und, wo dies noch nicht durchsetzbar ist, operativen Aushöhlung der Schutzrechte der Bevölkerung gegenüber dem Staat unter Beibehaltung des formaldemokratischen Überbaus.
Staatsfaschisierung und offener Faschismus
Wir folgen hier dem marxistischen Verständnis von Faschismus als einer Form bürgerlicher Herrschaft, gewissermaßen ihrer Extremform. Im Faschismus gewinnt eine äußere, streng hierarchisch gegliederte Organisation die Dominanz über die Staatsapparatur und verschmilzt mit ihr, wodurch das in die Krise geratene ökonomische System beibehalten und auf einer neuen Ebene gewaltsam gesichert wird. Die Kriegsmaschine wird in den Staat als ein performatives Organisationsprinzip eingepflanzt, das heißt, der faschistische Staat geht als handelndes System zur Praktizierung des offenen Terrors gegen die Bevölkerung, respektive deren widerständige und oppositionelle Teile, über, wofür er andere Bevölkerungsteile mobilisiert. Faschismus ist zugleich die schärfste Form der sozialen Exklusion. Propagandistisch werden gegenüber dem Liberalismus als tragender Ideologie die Konzeptionen der Volksgemeinschaft, des Rassismus und des Nationalismus ins Spiel gebracht. Der Faschismus markiert somit den Übergang vom scheinbaren Frieden zum offenen Krieg, er ist die qualitative Intensivierung und Ausdehnung der Konterrevolution und des Klassenkampfs, den die herrschenden Klassen permanent führen. Gleichzeitig werden die Massen immer auch auch mobilisiert. Und werden die Massen als Nation konstituiert, dann ist das ein spezifischer Prozess, den George Mosse in seinem Buch »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« exakt beschrieben hat. Für Mosse ist der Nationalsozialismus lediglich der Grenzfall der Demokratie, indem er die Indoktrination homogener kollektiver Vorstellungen, die in Demokratien immer zu beobachten sind, in das Extrem hinein treibt. Die Predigt der Macht ist dann dem Irrationalismus einer faschistischen Massenpolitik verwandt, die eine Einheit, die erst nur auf dem Papier besteht, gewissermaßen fühlbar macht. Der allgemeine Wille wird als kollektive Emotion vorgeführt. Die Nazis haben den Prozess der Konstruktion einer Einheit der Emotion auf ein ganzes Volk ausgedehnt und zum Äußersten der Vernichtung vorangetrieben. Es ist eine rasante Steigerung von Tendenzen, die in bestimmten demokratischen Verfahren und Zeremonien auch anzutreffen sind. Deleuze und Guattari haben die Demokratie in all ihren Kollaborationen scharf kritisiert, indem sie sie gewöhnlich den Cousin des Totalitarismus nennen. Die Nation gerinnt jetzt zur imaginären Inkarnation des Volke, eine nationale Selbstrepräsentation, die auf dem beruht, was das Volk vereint: Sprache, Geschichte, Heimat, Blut etc.
Im Gegensatz dazu vollzieht sich die heutige Staatsfaschisierung nicht hauptsächlich durch einen Komplott zwischen faschistischen Organisationen und dem Staat, sondern es handelt sich um eine strukturelle und sequenzielle, vom Staat selbst angetriebene Transformation des politischen Systems und seiner Apparate. Staatsfaschisierung ist also nicht durch braune Uniformen im Straßenbild und die Übernahme der Ministerien durch rechte Gruppen gekennzeichnet, sondern eine Tendenz, die in den Ministerien und Apparaten selbst vorbereitet und vorangetrieben wird.
Moderne Massenbewegung
Darüber hinaus erhält die strukturelle Staatsfaschisierung auch eine neue Massenbewegung und soziale Basis ungeahnten Ausmaßes: Ihre Massenbewegung ist die an technische Geräte angeschlossene, permanent Daten generierende und sich selbst wechselseitig bewertende wie ihrerseits von staatlichen und kommerziellen Agenturen bewertete, beobachtete. überprüfte und klassifizierte Bevölkerung. Im Kontext der Gouvernementalität, die Foucault so eindringlich beschrieben hat, haben sich mit der Digitalisierung der kapitalistischen Produktionsprozesse umfassende hegemoniale Quantifizierungs-Dispositive entwickelt, die als Messungs-, Bewertungs- und Vergleichsinstrumente auf Steigerungs- und Überbietungsverfahren bezüglich der Rentabilität, Effizienz und Transparenz in allen möglichen Bereichen setzen und eben zu omnipräsenter Quantifizierung führen. Diese strukturellen Prozesse (Ranking, Rating, Scoring, Screening, Casting usw.) treffen heute auf im höchsten Maße vereinzelte Dividuen,[ e zwar nach wie vor Individualität simulieren, aber in exakt in diesem Kontext tagtäglich ihre aktive Bereitschaft zur Vergabe von Daten, zur Teilnahme an Quantifizierungsverfahren und allgemein zur freiwilligen technischen Partizipation demonstrieren. Derartige Teilnahmeprozeduren sind dem Quantifizierungsdispositiv nicht nur förderlich, sondern sie intensivieren andauernd dessen Wirkungen, die nicht nur in der Quantifizierung selbst und im numerischen Vergleich bestehen, sondern zugleich die Konkurrenz zwischen den Bewerteten und Wertenden verstärken. Damit ist die Bevölkerung einerseits massiven Anpassungszwängen unterworfen und in zunehmenden Maße auch in den Zeiträumen außerhalb der Lohnarbeit beschäftigt, andererseits schafft sie so die Grundlage für ihre eigene Ausforschung, wobei sie sogar noch unentgeltliche Arbeit für das Kapital leistet. Die Quantifizierung ist Teil einer expansiven Kapitalisierung und Ökonomisierung für die Erschließung von Bereichen, welche den Imperativen der Kapitalverwertung bislang noch entzogenen waren. Den Apparaten bieten die auf dieser Grundlage erhobenen Daten, die zur Ware, also kommodifiziert und damit monetär verwertbar werden, zudem die Möglichkeit, die algorithmischen Verfahren zu verbessern, die heute Mittel zur Hierarchisierung von Informationen und zur individuell zugeschnittenen Beeinflussung eines jeden Einzelnen sind. Die Repressionsbehörden sind zudem neben der vollständigen biometrischen Erfassung daran interessiert, möglichst viel über jeden einzelnen in Erfahrung zu bringen, um so jegliche Anonymität zu beseitigen und auf Basis ihres Datenpools zukünftiges Handeln prognostizieren und Widerstände frühzeitig ausschalten zu können. Das heißt, Big Data, dessen technische Grundlage permanente Überwachung ist, ist für Staat und Kapital heute gleichermaßen bedeutsam.
Foto: Bernhard Weber
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